Wollmesse auf dem Alexanderplatz um 1830

Alexanderplatz: Der Platz im 19. Jahrhundert

Dieser Beitrag ist Teil 3 von 11 der Beitragsserie "Der Alexanderplatz"

Der Platz bekommt seinen Namen

Das anbrechende 19. Jahrhundert bringt ein Ereignis mit sich, das für den Platz vor der Königsbrücke immense Bedeutung erlangen soll: Im Frühjahr des Jahres 1805 besucht der russische Zar Alexander I. (1777-1825) in Berlin den mittlerweile regierenden König Friedrich Wilhelm III. und dessen Frau, Königin Luise. In einem feierlichen Zug zieht er, ausgehend vom Exerzierplatz neben dem Ochsenplatz, in die Residenz- und Hauptstadt Berlin ein.

Ausschnitt eines Stadtplans mit dem Platz um 1804
Ein Ausschnitt eines Stadtplans von 1804 mit dem kurz darauf Alexanderplatz getauften Areal.
Quelle: Wikimedia Commons, Plan von J. C. Selter Lizenz: gemeinfrei, da urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen.

Der Grund des Besuchs ist die französische Bedrohung durch Napoleon. Der Zar möchte den preußischen König unbedingt als Bundesgenossen gegen den selbsternannten französischen Kaiser gewinnen.

Während seines Aufenthalts in der Stadt stiftet der Zar dem preußischen König das nach ihm benannte Kaiser-Alexander-Garde-Grenadierregiment. Mag es die Dankbarkeit dafür sein oder auch der Wille, den Gast und zukünftigen Bundesgenossen zu ehren – am 2. November 1805 erhält der Ochsenplatz durch eine Königliche Kabinettsorder Friedrich Wilhelms III. den Namen des hohen Staatsgastes und heißt von nun an Alexanderplatz.

Nimmt man es ganz genau, so werden dabei eigentlich mehrere kleinere Plätze, die sich hier in der Vergangenheit gebildet haben und gewissermaßen ineinander übergehen, zu einem einzigen zusammengefaßt. So jedenfalls geht es aus dem „Neuesten Conversations-Handbuch für Berlin und Potsdam“ von 1834 hervor:

Alexander-Platz (der), einer der größeren öffentlichen Plätze der Hauptstadt, auf der Nordseite derselben gelegen, von unregelmäßiger Form, aber größten Theils mit schönen Häusern besetzt. […] Ein Theil des Platzes hieß in der Vorzeit: ‚an der Contrescarpe‘, ein anderer, und zwar der untere Theil: ‚am Stelzenkruge‘; der mit Bäumen besetzte Theil vor dem Arbeitshause führte auch den Namen: ‚der Parade-Platz‘.“

Seit dieser Zeit trägt der Alexanderplatz seinen Namen ununterbrochen – bis heute.

Der südliche Teil des Alexanderplatzes um 1806
Der südliche Teil des Alexanderplatzes um 1806. Links steht das Haus mit den 99 Schafsköpfen.
Quelle: Wikimedia Commons, Stich von Günter nach einer Zeichnung von Catel. Lizenz: gemeinfrei, da urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen.

Das Bündnis zwischen Preußen und Rußland ist zunächst machtlos gegenüber dem Ansturm der französischen Truppen, die im Zuge ihres Vormarschs auch Berlin besetzen. Der preußische König verläßt daraufhin die Stadt. Nachdem 1813 der Rußlandfeldzug Napoleons scheitert und sich die französischen Truppen schließlich zurückziehen, werden sie von den russischen Truppen verfolgt. Und so ist im Frühjahr 1813 auch Berlin Schauplatz einiger Auseinandersetzungen zwischen russischen und französischen Truppen. Am 20. Februar ereignet sich der sogenannte „Tolle Tag“ in Berlin: auf dem Alexanderplatz treffen russische Kosaken – eine Vorhut der russischen Armee aus zwei- bis dreihundert Reitersoldaten – auf sich zurückziehende Truppen Napoleons, die die Stadt gerade besetzt halten. Am 4. März ziehen schließlich fünftausend russische Soldaten von Osten kommend in die Stadt ein und lagern auf Berliner Plätzen. Auch auf dem Alexanderplatz richten sie ein solches Lager ein.

Als der preußische König wieder in seine Berliner Residenz zurückkehrt, ist dies Anlaß genug für eine Reihe neuerlicher Umbenennungen: das Bernauer Tor, das sich etwa an der heutigen Kreuzung Mollstraße / Otto-Braun-Straße befunden hat, erhält den Namen des einst direkt am Platz stehenden Königstores, das im Zuge des Abrisses der Festungsanlagen beseitigt worden war. Die Bernauer Straße, die von diesem Tor zum Alexanderplatz führt, wird nun als Neue Königsstraße bezeichnet. Und am 22. Mai 1819 folgt dann eine weitere Namensänderung als neuerliche Ehrung für den russischen Zaren: die zum Alexanderplatz hin- und über ihn hinwegführenden Straßen „An der Contrescarpe“ und „Auf der Contrescarpe“ werden zusammengefaßt und erhalten den Namen „Alexanderstraße“.

Der Alexanderplatz im Biedermeier

Nach der Niederlage Napoleons in den Befreiungskriegen kommt es in Europa zu einer Phase der Restauration. Die sogenannte „Heilige Allianz“, gebildet von Preußen, Rußland und Österreich, gewinnt an Macht und Einfluß und ist bestrebt, jegliche demokratischen Bestrebungen im Geiste der Französischen Revolution von 1789 zu unterdrücken. Dadurch zerschlagen sich letztlich auch die Hoffnungen des Bürgertums auf einen demokratischen Nationalstaat oder eine konstitutionelle Monarchie in Preußen. Als Reaktion darauf ziehen sich die bürgerlichen Schichten vorwiegend in die häusliche Behaglichkeit zurück und konzentrieren sich auf unternehmerische Aktivitäten. Die Zeit des Biedermeiers bricht an und beherrscht alsbald das öffentlichen Leben und in letzter Konsequenz natürlich auch das Erscheinungsbild des Alexanderplatzes. Hier wie anderswo in der Stadt prägen alsbald gediegene Kaffeehäuser und unterhaltsame Theater die Szenerie.

Königsstädtisches Theater
Das Königstädtische Theater.
Quelle: Wikimedia Commons, Künstler unbekannt Lizenz: gemeinfrei, da urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen.

Am 12. März des Jahres 1824 eröffnet am Alexanderplatz ein Etablissement seine Pforten, das schnell zu einem Lieblingsort der Berliner avanciert: Das „Königstädtische Theater“ des Friedrich Cerf ist das erste private Theater Berlins und gleichzeitig die erste kulturelle Einrichtung am Alexanderplatz. Es steht zu jener Zeit etwa an der Stelle, an der sich heute das Alexanderhaus befindet.

Das Theater entsteht durch Umbau und Erweiterung des Gebäudes der ehemaligen Textilmanufaktur der Brüder Hesse. Diese war bereits 1809 stillgelegt worden, als die Wollverarbeitung zunehmend an Bedeutung verlor. Nach Plänen des Architekten Karl Theodor Ottmer entsteht ein stattliches Theater, dessen Saal rund 1600 Besuchern Platz bietet. Das Erdgeschoß wartet mit einem Restaurant und einer Konditorei auf. Die offizielle und sensationsträchtige Eröffnungsveranstaltung geht am 4. August 1824 mit dem Lustspiel „Der Freund in der Not“ über die Bühne und ist ein voller Erfolg. Sogar der König ist zu dieser Eröffnung im Theater erschienen.

Schnell entwickelt sich das Theater zu einem echten Publikumsmagneten. Daß hier erstmals Stücke im Berliner Dialekt aufgeführt werden, trägt dazu natürlich in großem Maße bei. Aber auch Künstler wie der Komiker Friedrich Beckmann und die Opern-Diva Henriette Sontag, von den Berlinern liebevoll die „Jöttliche Jette“ genannt, tragen sehr zum großen Erfolg des Theaters bei.

Aber auch andere Gebäude am Alexanderplatz wechseln ihre Bestimmung in jenen Jahren. Das ehemalige Wohn – und Atelierhaus des Bildhauers Jean-Pierre-Antoine Tassaert wird nach 1818 mehrfach umgestaltet. Zunächst eröffnet darin ein Hotel mit dem Namen „Kaiser von Rußland“. Andere Quellen überliefern den Namen „Haus zum Kaiser Alexander“. Hier wohnt auch die Sängerin Henriette Sontag in der Zeit ihres Engagements am Königstädtischen Theater. Später geht das Gebäude in den Besitz eines Seidenfabrikanten über, der darin Verkaufsläden einrichten läßt. Und wieder einige Jahre später wird schließlich ein Kaffeehaus darin eröffnet.

Das Antlitz des Platzes bestimmen in der Zeit des frühen 19. Jahrhunderts neben diesem Gebäude auch die Georgenkirche, das Arbeitshaus mit seiner Strafanstalt und eben das Königstädtische Theater. Und auch der Alexanderplatz geht mit der Zeit: es kommt zu einer Reihe von Modernisierungen. So zündet man 1826 die ersten Gaslaternen auf dem Platz an und pflastert die ersten Straßen. Hier ansässige Bürger hatten dies angeregt und beteiligen sich auch selbst daran – vorwiegend finanziell natürlich.

Wollmesse auf dem Alexanderplatz um 1830
Eine Wollmesse auf dem Alexanderplatz um 1830. Der Blick geht geradewegs in die Königstraße mit Königsbrücke und Kolonnaden. Links steht das Königstädtische Theater.
Quelle: Wikimedia Commons, Künstler unbekannt Lizenz: gemeinfrei, da urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen.

Nicht mehr in dieses gediegene Bild paßt da natürlich der Viehmarkt, der dem Platz einst zu seinem ursprünglichen Namen verhalf. Ab 1827 findet er folgerichtig auch nicht mehr hier auf dem Alexanderplatz statt. Man verlegt ihn auf ein Gelände an der Landsberger Straße neben das dortige Stadttor. Die Stadt erweitert sich in dieser ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in großem Maße, was nicht zuletzt eine Folge der starken Zuwanderung ist. 1842 wird der Galgenberg zur Bebauung freigegeben. Das Land nördlich und östlich der Vorstädte schlägt man dem Stadtgebiet zu, was insbesondere auch die Königsstadt stark erweitert.

Zwischen Revolution und Wollmarkt

Nicht jeder Einwohner der Stadt kann es sich jedoch leisten, am Alexanderplatz im Kaffeehaus oder im Theater das Leben zu genießen. Gerade in den Vierteln in der näheren Umgebung des Platzes wohnen vorwiegend Angehörige der unteren Klassen und des allmählich entstehenden Proletariats, die mehr und mehr am Rande des Existenzminimums leben. Mehr als ein Viertel der Bevölkerung trifft dieses Schicksal. Tausende Handwerker – insbesondere Weber, Schuster, Schneider und andere – haben in dieser Zeit kein Auskommen mehr. In den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts werden jährlich vier- bis fünftausend Personen in das Arbeitshaus am Alexanderplatz eingewiesen, das nahezu ständig überbelegt ist. 1835 wird dort eine Tretmühle eingerichtet, in der die Insassen schwere Arbeit verrichten müssen. Kinder werden davon nicht ausgenommen. Erst heftige Proteste führen 1839 schließlich dazu, daß die tägliche Arbeitszeit für Kinder unter zehn Jahren wenigstens auf zehn Stunden begrenzt wird.

Mit der Zeit wachsen Unmut und Unzufriedenheit über die herrschenden Zustände in der Bevölkerung in ganz Deutschland immer mehr an, bis sich diese 1848 in der bürgerlichen Revolution entladen. Dies bekommt auch der Alexanderplatz zu spüren, als am 18. März die Kämpfe der Märzrevolution auch hier stattfinden. An verschiedenen Stellen in der Stadt werden Barrikaden errichtet, die von Aufständischen und gegen sie eingesetztem Militär heftig umkämpft werden. Die auf dem Platz am Eingang in die Neue Königsstraße aufgestellte Barrikade ist nach einem zeitgenössischen Zeitungsbericht „vielleicht die stärkste in der ganzen Stadt“. Sie hält als einzige Barrikade dem Ansturm der Soldaten stand, bis am Morgen des 19. März die Gefechte abgebrochen werden. Letzten Endes kann jedoch auch sie das Scheitern der Revolution nicht verhindern, in deren Anschluß sich die vormaligen Verhältnisse im Land wieder restaurieren, als die politische Reaktion in Preußen wieder die Oberhand gewinnt.

Im Jahre 1851 läuft im Königstädtischen Theater die letzte Vorstellung – dann schließt es für immer seine Pforten. Der Bankrott beendet die Geschichte dieses einst so erfolgreichen Hauses. Das Gebäude wird alsbald als Wohnhaus und Wollmagazin genutzt, denn noch immer wird auf dem Alexanderplatz Wolle gehandelt. Er ist mittlerweile sogar zum bedeutendsten Wollmarkt Preußens avanciert. In der nahen Klosterstraße befindet sich noch immer das große Lagerhaus für Wolle. Jedes Jahr im Juni kommen jeweils an fünf Tagen – später sind es vier – auswärtige Händler in großer Zahl in die Stadt, unter ihnen viele Russen. Bei den Gastwirten am Platz und in der näheren Umgebung sind diese Tage sehr beliebt, beleben die vielen auswärtigen Händler und deren Kunden doch das Gastgewerbe in hohem Maße. Chroniken läßt sich entnehmen, daß im Jahre 1869 an den vier dafür vorgeschriebenen Tagen über 50.000 Zentner feine, 57.000 Zentner mittlere und 44.000 Zentner „ordinäre“ Wolle gehandelt werden. Ein lebendigeres Bild zeichnet P. D. Fischer in seinen „Erinnerungen aus meinem Leben“, erschienen in Berlin 1916:

„Besonders stark in die Augen fiel der landwirtschaftliche Charakter der Stadt [Berlin] zur Zeit des Wollmarktes. Nicht nur, weil sich alsdann die Einwohnerzahl vorübergehend durch den Zuwachs an Gutsbesitzern, Inspektoren, Wollkäufern und dem dazugehörigen ländlichen Hilfspersonal verstärkte, sondern vor allen Dingen durch den Aufbau des Marktes selbst auf den Plätzen und Straßen der Stadt. Ich weiß nicht, ob der Alexanderplatz mit den anstoßenden, bis in unsere Nachbarschaft reichenden Straßenzügen der alleinige Markt für die Landwolle war; aber einer der hauptsächlichsten war er sicher, und wir Kinder aus der Weinmeisterstraße begrüßten es mit dem lebhaftesten Interesse, wenn sich der Alexanderplatz mit dem Raum zwischen der neuen Königs- und Prenzlauer Straße, die Alexander- und die Münzstraße mit den Barrikaden der übereinander gestapelten, für unsere Kinderaugen schier unfaßlich großen Wollsäcke erfüllten, an denen in weithin lesbaren Buchstaben der Ursprung dieses Erzeugnisses der vaterländischen Schafzucht, Dominium Soundso oder Domäne Dingsda, prangte. Um die Güte des Produkts dartun zu können, befand sich an jedem Sack des Stapels ein Schlitz, aus dem die Wolle hervorquoll, die dann von den Kauflustigen der eingehendsten Prüfung durch Zupfen und Drehen unterzogen wurde. Wenn es uns Kindern gelang, einige Flocken der dabei abfallenden Wolle zu erhaschen oder auch von den gutmütigen Hütern dieser Schätze zu erbetteln, so eilten wir überglücklich nach Hause, um Miniaturwollsäcke daraus zu verfertigen und den ganzen Wollmarkt nebst allen dazu gehörigen Redensarten in unserer Kinderstube in Szene zu setzen.“

In späteren Jahren sinken jedoch die Preise für Wolle ebenso wie die gehandelten Mengen, denn die aufkommende Baumwolle ist sehr viel billiger.

Am 1. Juli 1855 wird in der Nähe des Platzes, an der Ecke Münz- und Grenadierstraße (der heutigen Almstadtstraße) Werbungsgeschichte geschrieben: Ernst Litfaß stellt hier seine erste Reklame-Säule der Öffentlichkeit vor. Wer heute an dieser Stelle vorübergeht, wird durch ein Denkmal in Form einer Litfaß-Säule daran erinnert.

Ein neues Zentrum entsteht

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzt sich der Zuzug von Menschen nach Berlin ungebrochen fort. Zwischen 1867 und 1897 wächst die Bevölkerung allein in der Königsstadt von rund 42.000 auf 198.000 Menschen an. Dies und der wirtschaftliche Aufschwung sind die Gründe für den Bau hoch verdichteter Wohnquartiere in der Gründerzeit. Diese entstehen auch und gerade in der Nähe des Alexanderplatzes. Bevorzugt im Prenzlauer Berg und im Friedrichshain errichtet man die berüchtigten Mietskasernen. Darunter muß man sich vorwiegend lichtarme, mehrfach gestaffelte Hinterhäuser vorstellen, immer mit mehreren Höfen, die oft nicht viel mehr als 5,3 Meter breit und ebenso tief sind. Ein Hof mit diesen Abmessungen bietet zu jener Zeit gerade Raum genug für das Wenden einer Feuerwehrspritze und ist damit das absolute vorgeschriebene Minimum. In einem Wohngebäude findet man oft etwa zwanzig Wohnungen, in den zugehörigen Hinterhäusern mit Seitenflügeln und Quergebäude pro Hof nochmals vierzig bis fünfzig. In der Regel sind das Einzimmerwohnungen ohne Bad – die Toiletten sind im Treppenhaus untergebracht. Oft gibt es für 10 Wohnungen lediglich eine Toilette. Auch wenn heute viele dieser Häuser bereits umfangreich saniert und ausgebaut wurden, so daß sich der Wohnkomfort unvergleichlich verbessert hat, so findet man im Prenzlauer Berg und in Berlins Mitte auch heute noch zahlreiche Beispiele für diese Mietskasernen mit endlos wirkenden Hinterhofketten, die einen Eindruck von der Lebensweise zu geben vermögen, der die damalige Arbeiterschaft unterworfen war.

In der Königsstadt wächst der Anteil der Mietskasernen an der Bebauung zwischen 1875 und 1910 von 8 Prozent auf 65 Prozent an. Hier findet das sich neu herausbildende Industrieproletariat billigen Wohnraum. Mehr und mehr wird der Alexanderplatz, der einstmals vor den Toren Berlins lag, dadurch zu einem gesamtstädtischen Zentrum. Während sich jedoch am Westrand des historischen Stadtzentrums mit dem Potsdamer Platz ein eher bürgerliches Zentrum herausbildet, entwickelt sich der Alexanderplatz eher zu dessen proletarischem Gegenstück. Hier lebt alsbald vor allem die sozial benachteiligte proletarische Bevölkerung Berlins. Dies findet seinen Widerhall auch in der Kunst. Ein Beispiel dafür ist das Theaterstück „Die Ratten“ von Gerhart Hauptmann, das in den über einhundert Jahre alten ehemaligen Magazingebäuden an der Ecke Alexander- und Magazinstraße spielt und die Lebenswelt des Proletariats in den Berliner Mietskasernen einfängt.

In die großen Entwicklungen fügen sich – sozusagen wie Randnotizen der Geschichte – einige kleinere Veränderungen am Alexanderplatz ein. 1870 bringt man am Giebel des Torbogens des Hauses „Am Königsgraben Nr. 10“ eine kleine Büste zur Erinnerung an Gotthold Ephraim Lessing an. Sie trägt die Aufschrift „Lessing dichtete hier Minna von Barnhelm 1765“ und wird vom „Verein für die Geschichte Berlins“ gestiftet. Das Gebäude ist zu dieser Zeit allerdings nicht mehr das originale Haus, in dem der Dichter einst zwei Jahre seines Lebens verbrachte. In den Jahren 1872/73 reißt man die Königsbrücke ab und ersetzt sie durch einen neuen Bau, an den sich aber nach wie vor die Königskolonnaden anschließen. Und ab 1873 wird die sich an den Alexanderplatz anschließende Königstadt offiziell nur noch ohne das Fugen-s geschrieben. Es hatte sich inzwischen so eingebürgert.

Die frühen 1870er Jahre bringen wieder unruhige Tage, auch für den Alexanderplatz. Es ist die Zeit der wirtschaftlichen Depression, des sogenannten Gründerkrachs. Selbst billige Wohnungen werden nun für viele Menschen unbezahlbar, und so haben schon bald viele kein Dach mehr über dem Kopf. Es entstehen Barackensiedlungen vor der Stadt, Menschen leben in Erdhöhlen. Mehr und mehr kommt es zu Unruhen, Demonstrationen und auch regelrechten Revolten, nicht zuletzt auch auf dem Alexanderplatz. Ende August 1872 lebt einige Tage lang eine größere Gruppe Frauen hier. Sie waren bei der Zerstörung von Barackensiedlungen durch die Polizei vertrieben worden und sollten ins Arbeitshaus eingewiesen werden, weigerten sich allerdings, dort einzuziehen und besetzten stattdessen den Platz. Dort bleiben sie zunächst sich selbst überlassen, bis sich schließlich Hilfsorganisationen nach einigen Tagen um sie kümmern.

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