Der Hermann-Ehlers-Platz in Berlin-Steglitz gegenüber dem Steglitzer Rathaus, gewissermaßen das Zentrum dieses Stadtteils, ist wohl einer der belebtesten Plätze dieser Stadt. Doch nur wenige der Passanten, die täglich über diesen Platz eilen, mögen wohl wissen, daß sich hier einst ein Zentrum jüdischen Lebens in Berlin befand und daß ganz in der Nähe, in der Düppelstraße 41, eine der vielen, heute vergessenen ehemaligen jüdischen Synagogen steht, deren Berlin einst so viele hatte.
Die Geschichte dieser Synagoge ist eng mit dem Namen Moses Wolfenstein verknüpft, an den heute der ganz in der Nähe gelegene Wolfensteindamm erinnert. Die Familie Wolfenstein ist Mitte des 19. Jahrhunderts eine der ersten, die die Genehmigung erhält, sich in Steglitz niederzulassen. Im Jahre 1850 wird ihr zudem die Erlaubnis erteilt, ein Geschäft für Damen- und Herrenkonfektion zu führen, das sie alsbald unter dem Namen "Bazar" eröffnet.
Als der Kaufmann Moses Wolfenstein, 1838 in Obersitzko bei Posen geboren, 1871 aus dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 nach Berlin zurückkehrt, erwirbt er noch im selben Jahr das Grundstück in der heutigen Düppelstraße 41. Damals trägt die Straße noch den Namen Bergstraße, und das Grundstück hat die Hausnummer 22. Im darauffolgenden Jahr erhält Wolfenstein die Baugenehmigung für ein zweigeschossiges Wohnhaus mit einem Verkaufsraum im Erdgeschoß.
Die Familie Wolfenstein war natürlich nicht die einzige jüdische Familie, die sich in Steglitz ansiedelte. Und so kommt es am 14. April 1878 zum Zusammenschluß vierzehn jüdischer Familien zum ”Religiösen Verein jüdischer Glaubensgenossen zu Steglitz”. Den Vorsitz führt Moses Wolfenstein, auf dessen Initiative die Gründung des Vereins unter anderem zurückging.
Erste Zusammenkünfte und Gottesdienste des Vereins finden zunächst im Schloßpark-Restaurant statt. Später werden sie jedoch in ein Hofgebäude des Hauses Albrechtstraße 111 verlegt, das für diesen Zweck angemietet wird. Darüber hinaus bemüht sich die Gemeinde um den Erwerb eines Geländes für einen jüdischen Friedhof. Diese Bemühungen scheitern jedoch, weshalb die Bestattungen vornehmlich auf dem jüdischen Friedhof in Weißensee stattfinden. Im Jahre 1888 richtet der Rabbiner Grünfeld in der Gemeinde einen Religionsunterricht ein. In den nachfolgenden Jahren ziehen weitere jüdische Familien nach Steglitz und seine nähere Umgebung.
Während so die Gemeinde wächst, wird das von ihr genutzte Gebäude in der Albrechtstraße mit der Zeit immer baufälliger und ist schließlich nicht mehr benutzbar. Daher entschließt sich Moses Wolfenstein im Jahre 1897 dazu, ein eigenes Gebäude für gottesdienstliche Zwecke errichten zu lassen. Noch im selben Jahr beginnen die Umbau- und Aufstockungsarbeiten an einem ehemaligen Stallgebäude auf seinem Grundstück. Schon bald können diese abgeschlossen werden, und die Gemeinde verfügt nun über eine Synagoge.
Diese Synagoge ist eine von vielen Privatsynagogen dieser Art, die in Berlin zu jener Zeit gegründet werden. Im Erdgeschoß befindet sich der Betraum für die Männer, während die erste Etage den Gottesdienstraum für die Frauen beherbergt. Außerdem wird hier die Heilige Lade mit den Heiligen Schriften aufgestellt. Einige Zeit später wird die Treppe nach außen verlegt, wo sie heute noch zu sehen ist. Über der Eingangstür wird ein Relief angebracht, das zwei Löwen zeigt, die dem Eintretenden die hebräischen Gesetzestafeln entgegenhalten.
Schon bald wird die Synagoge ihrem Stifter zu Ehren “Wolfenstein-Synagoge” genannt. Die hier stattfindenden Gottesdienste werden nach dem konservativem Ritus abgehalten, weshalb die Synagoge auch nicht über eine Orgel und einen Chor verfügt.
Als am 8. April 1907 der tief religiöse und großherzige Moses Wolfenstein stirbt, bedeutet das für die Gemeinde einen herben Verlust. Sein Nachfolger als Erster Vorsteher wird Dr. James Fraenkel, der zu jener Zeit bereits einer der namhaftesten Psychiater Europas ist.
Mit den Jahren wächst der Wohlstand der Gemeinde mehr und mehr. Im Jahre 1915 kann die Synagoge mit elektrischem Licht ausgestattet werden. Zu jener Zeit leben bereits etwa 700 Juden in Steglitz. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg nimmt ihre Zahl immer weiter zu, so daß sie zu Beginn der dreißiger Jahre auf rund 4000 angewachsen ist. Darunter sind viele angesehene Kaufleute, hervorragende Ärzte wie der Sanitätsrat Dr. Albert Zander sowie namhafte Juristen, unter ihnen der Justizrat Prof. Dr. Alexander-Katz. Schon bald ist die Synagoge für die große Zahl der Gläubigen zu klein. Daher werden zusätzliche Gottesdienste in der Jüdischen Blindenanstalt in der Wrangelstraße abgehalten.
Doch in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre wird das jüdische Leben auch in Steglitz mehr und mehr vom aggressiven Antisemitismus der Nationalsozialisten überschattet. Dieser gipfelt schließlich am 9. November 1938 in der Reichskristallnacht, als viele Synagogen von den Nazis und sich zusammenrottendem Pöbel in Brand gesteckt werden. Daß die Synagoge in der Düppelstraße 41 von der allgemeinen Zerstörung verschont bleibt, verdankt sie nur ihrer direkten Nachbarschaft zu einer Tischlerei. Da die Nazis befürchten, mit der Synagoge auch diese Tischlerei, das zugehörige Möbellager und den gesamten Wohnblock zu zerstören, sehen sie von einer Inbrandsetzung der Synagoge ab und beschränken sich darauf, sie vollständig zu plündern. Fast alle Kostbarkeiten der Synagoge werden entwendet, insbesondere die jahrhundertealten Gebetbücher. Lediglich die Thorarollen bleiben davon verschont, da es der Ehefrau des letzten Vorstehers der jüdischen Gemeinde, Kurt Wolfenstein, in der Nacht zuvor gelingt, sie in Sicherheit zu bringen. An der Plünderung und Schändung der Synagoge sind Augenzeugen zufolge nicht nur SA- und SS-Leute beteiligt, sondern auch sogenannte “normale” Bürger des Bezirks.
Im Jahre 1939 schließlich wird die Gemeinde von den Nationalsozialisten gezwungen, das Grundstück, auf dem die Synagoge steht, zu verkaufen. Die Synagoge geht in Privatbesitz über. Die Familie Wolfenstein, Eigentümer des Vorderhauses, entkommt glücklicherweise in die USA. Die geretteten Thorarollen der Synagoge nehmen sie mit - sie dienen noch heute Gemeinden in Nord- und Südamerika sowie Israel.
1943 schließlich wird das von Moses Wolfenstein erbaute Geschäftshaus bei einem Bombenangriff zerstört. Das Synagogengebäude erleidet dabei aufgrund glücklicher Umstände nur teilweise Beschädigungen. Diese werden bereits 1946 beim Wiederaufbau beseitigt.
Ihrer ursprünglichen Bestimmung wird die Synagoge jedoch nicht wieder zugeführt. Bereits in den fünfziger Jahren dient sie Wohnzwecken, später wird sie auch als Lagerraum genutzt. Bereits in jenen Jahren gibt es Versuche, an die ehemalige Synagoge durch eine Gedenktafel zu erinnern. Lange Zeit bleiben sie jedoch wirkungslos. Doch am 15. März 1966 wird eine im Zuge des Baus der Stadtautobahn neu entstandene Straße anläßlich der “Woche der Brüderlichkeit” mit dem Namen “Wolfensteindamm” benannt. Somit erinnert noch heute diese Straße an den Begründer der Synagoge.
Die Spuren des einstigen jüdischen Lebens im näheren Umfeld der ehemaligen Synagoge sind Ende der achtziger Jahre jedoch nicht mehr erkennbar. Der Verein “Initiative ’Haus Wolfenstein’ - Verein zur Erhaltung der ehemaligen Synagoge Steglitz und zur Förderung interkultureller Begegnung e.V.”, der sich inzwischen gegründet hat, bemüht sich jedoch intensiv um den Erhalt der jüdischen Kultstätte. Angestrebt werden die originalgetreue Restaurierung und der Umbau zu einer Stätte der Studien und Begegnungen.
Als jedoch der nahegelegene Hermann-Ehlers-Platz neu gestaltet werden soll und dafür ein städtebaulicher Wettbewerb ausgeschrieben wird, sieht der siegreiche, preisgekrönte Entwurf den Abriß der Synagoge zugunsten einer Ladenpassage vor. In ihrem Kampf um den Erhalt des Synagogengebäudes erreichen die Bezirksverwaltung und die Mitglieder der Initiative “Haus Wolfenstein” 1989 den Eintrag des Gebäudes in das Baudenkmalbuch durch den Landeskonservator. Doch erst 1990 kann der drohende Abriß endgültig abgewendet werden.
Nach einer heftigen und lange Jahre andauernden Kontroverse wird schließlich auf dem Hermann-Ehlers-Platz ein “Denkzeichen” für die ehemalige Synagoge und das jüdische Leben im Bezirk Steglitz geschaffen - die sogenannte “Spiegelwand”. Dabei handelt es sich um eine hochpolierte Chromstahlwand, die, zentral auf dem Platz aufgestellt, das Marktgeschehen spiegelt. Zugleich jedoch wird der Betrachter mit den eingravierten Namen, Geburtsdaten und Anschriften von jüdischen Deportierten aus ganz Berlin, mit Transportlisten, soweit diese auch Steglitzer Adressen enthalten, und mit Text- und Bilddokumenten zu Geschichte und Gegenwart jüdischen Lebens konfrontiert. Die Länge dieser Spiegelwand ist exakt die gleiche wie die der Synagoge.
Das Gebäude der ehemaligen Synagoge hat die Zeiten bis zum heutigen Tage überdauert. Doch obwohl es Anfang der neunziger Jahre vom Eigentümer des Grundstücks Düppelstraße 41, in dessen Innenhof es heute gelegen ist, umfassend restauriert wurde, ist es bis heute nicht für die Öffentlichkeit zugänglich. So bleibt uns leider eines der seltenen erhaltenen Zeugnisse des jüdischen Lebens in Berlin vorenthalten.
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