Eines der heute verlorenen Gebäude am Alexanderplatz ist das Königstädtische Theater, das auch für die Berliner Kulturgeschichte einige Bedeutung erlangt hat. Seine Geschichte beginnt um 1823, als der Dessauer Pferdehändler Friedrich Hirsch, dem man nachsagt, daß er angeblich weder lesen noch schreiben konnte, sich den Künstlernamen Cerf zulegt und die Eröffnung eines Theaters plant.
Obwohl mit dem neuen Theater den etablierten königlichen Hofbühnen eine Konkurrenz erwächst, erteilt der König – für damalige Verhältnisse ausgesprochen schnell – bereits 1823 höchstselbst die Konzession. Das gibt zahlreichen Spekulationen Nahrung, unter anderem der, daß dies ein Dank des Hauses der Hohenzollern an Hirsch sei, da dieser, wie vermutet wird, im kritischen Jahr 1812 streng vertrauliche geheimdiplomatische Dienste in Richtung Rußland, an den Franzosen vorbei, geleistet habe. Bewiesen ist es nicht.
Das neue Theater bezieht das ehemalige Manufakturgebäude der Textilmanufaktur der Brüder Hesse an der Alexanderstraße 2, wo sich heute das Alexanderhaus befindet. Die Manufaktur war bereits im Jahre 1809 stillgelegt worden, als die Wollverarbeitung in Preußen an Bedeutung verlor. Um für den neuen Verwendungszweck ausreichend Platz zu gewinnen, wird das Gebäude in großem Stile umgebaut und erweitert. Als Architekt wird dafür der erst 24jährige Absolvent der Bauakademie Karl Theodor Ottmer engagiert.
Von Anfang an ein Privattheater, wird das Königstädtische Theater auf der Basis von Aktien finanziert. Sein Theatersaal bietet Platz für rund 1600 Besucher. Im Erdgeschoß lassen sich ein Restaurant und eine Konditorei nieder. Als das Theater am 12. März 1824 eröffnet wird, ist es nicht nur die erste kulturelle Einrichtung am Alexanderplatz, sondern auch das erste nicht-höfische Theater Berlins überhaupt. Die sensationsträchtige Eröffnungsvorstellung findet jedoch erst am 4. August 1824 statt – in Anwesenheit des Königs. Aufgeführt wird das Lustspiel “Der Freund in der Not”.
Da es dem Betreiber allerdings verboten ist, in Konkurrenz zu den königlichen Hofbühnen, dem Schauspielhaus am Gendarmenmarkt und der Oper Unter den Linden, zu treten, darf er nur kleine Aufführungen von Schau-, Lust- und Singspielen auf die Bühne bringen. Die Entscheidung, diese erstmals in Berliner Dialekt aufzuführen, verschafft dem Theater große Bekanntheit, denn diese Stücke finden natürlich schnell ein breites, bunt gemischtes Publikum und verhelfen ihm zu großem Erfolg. In einem zeitgenössischen Bericht heißt es dazu:
“Im 3. Rang tummeln sich die schnapsroten Gesichter von Nante’s Konsorten, Lehrjungen, leichtfertige Dirnen, Bediente, Knechte, Mägde im Sonntagsstaat. Jeder hat Wurst, Fleisch, Brot und die Branntweinflasche (die Feuchte, wie sie sagen) bei sich.”
Der erwähnte Eckensteher Nante erfährt hier als Philosoph des Nichtstuns seine Auferstehung. Jener von Adolf Glaßbrenner geschaffene Dienstmann, dessen Philosophie die Schnapsflasche “Karline” und der Spruch “Lebenslauf, ick erwarte dir” sind, steht hier im Königstädtischen Theater zum ersten Mal in dem 1832 uraufgeführten Stück “Ein Trauerspiel in Berlin” von Karl von Holtei auf der Bühne, gespielt vom Komiker Friedrich Beckmann, der zunächst Garderobeninspektor des Theaters gewesen war. Durch eigene “Zutaten” macht Beckmann die Figur so populär, daß man im 3. Rang des Theaters nur noch den Eckensteher sehen wollte. “Vorhang runter. Beckmann soll Nante spielen,” tobt die Menge immer wieder, wie in zeitgenössischen Berichten zu lesen ist.
Und auch eine andere Berliner Theaterlegende zieht hier im Königstädtischen Theater das Volk in ihren Bann: die Rheinländerin und Opern-Diva Henriette Sontag, von den Berlinern liebevoll als die „Jöttliche Jette“ betitelt. Am 3. August 1825 beginnt ihr Engagement an diesem Theater. Sie ist zu diesem Zeitpunkt gerade einmal neunzehn Jahre alt. Böse Zungen wissen zu berichten, sie sei frühzeitig vom Konservatorium geflogen. Auch daß ihr Repertoire angeblich über achtzehn Arien nie hinausgekommen sei, wird von ihnen immer wieder behauptet. Wenn das stimmt, dann reicht dies dennoch für eine phänomenale städtische Bekanntheit, die bis in die heutige Zeit anhält.
Zwei Jahre ist sie am Königstädtischen Theater. 7000 Taler Jahresgage plus Extras wie freie Wohnung mit Hauspersonal, Equipage sowie ein Gefälligkeitsengagement ihrer Schwester Nina als Kinderdarstellerin – das sind ihre für die damalige Zeit außerordentlich großzügigen Vergütungen für ihr Engagement. Die Begeisterung der Berliner für die Sängerin scheint keine Grenzen zu kennen. Es kommt sogar vor, daß begeisterte Berliner Studenten nach der Vorstellung die Pferde ihrer Kutsche ausspannen und selbst den Wagen zur Wohnung der Künstlerin ziehen wollen, was die Polizei allerdings verhindert. Schnell wird der Begriff des “Berliner Sontagsfiebers” geprägt. Und selbst Johann Wolfgang von Goethe schwärmt von der Sängerin als seiner “flatternden Nachtigall”.
Eine Anekdote über König Friedrich Wilhelm III. und die Sängerin Henriette Sontag weiß folgendes zu berichten:
Der König soll einst der Sängerin gegenüber in seiner abgehackten Sprechweise kommentiert haben:
“Berliner vor Ihrem Fenster noch viel Lärm gemacht. Muß Ihnen lästig geworden sein. Mir wenigstens so etwas unerträglich.”
Doch Henriette Sontag strahlt und meint:
“Ach, Majestät, ein König ist daran gewöhnt, aber für eine arme Sängerin ist es doch sehr neuartig und erfreulich.”
Am 9. Mai 1826 steht Henriette Sontag zum letzten Mal auf der Bühne des Königstädtischen Theaters am Alexanderplatz – sie spielt und singt in dem Stück “Aschenbrödel”. Die Sängerin Karoline Bauer beschreibt in ihrem Buch “Aus meinem Bühnenleben” (Weimar 1917) den Abschied von der “Jöttlichen Jette” auf dem Alexanderplatz so:
“Und dann kam ein Tag der tiefsten Sontagtrauer für ganz Berlin. Henriette Sontag nahm am 9. Mai 1826 als “Aschenbrödel” von der Königsstadt Abschied. […] Als sie nach der Vorstellung an der Tür des Theaters erschien, fand sie den ganzen großen Alexanderplatz mit einer summenden, wogenden Menge Kopf an Kopf gefüllt. Das waren Tausende, die im Theater keinen Platz gefunden hatten. Mit brausendem Hoch! Hoch! wurde sie empfangen. Obgleich sie bis zu ihrer Wohnung im “Kaiser von Rußland” auf der anderen Seite des Alexanderplatzes nur hundert Schritte hatte, so bestieg sie doch klüglich ihren berühmten roten Wagen. Der Weg nach ihrer Wohnung war mit Blumen bestreut. […] Unter tausendstimmigen Vivatrufen nahm sie ihren Triumphzug bis in ihre Wohnung.”
Auch die schwedische Opernsängerin Jenny Lind tritt im Königstädtischen Theater auf und feiert hier Triumphe. Und der romantische Maler Carl Blechen arbeitet zeitweilig als Bühnenbildner im Haus.
Als 1840 Friedrich Wilhelm IV. den Thron besteigt, verliert das Theater die Subventionen, die der Königshof ihm bis dahin hatte zukommen lassen. Das verschlechtert seine finanzielle Situation beträchtlich. In den Märztagen der Revolution von 1848 finden auf dem Alexanderplatz Kämpfe statt, in die auch das Theater einbezogen wird. In der Zeit danach, als keine Zensur mehr in die Aufführungen eingreift, werden hier Stücke aufgeführt, die von den Herrschenden politisch unerwünscht sind. Als die Revolution endgültig scheitert, die Restauration sich etabliert und 1851 die Zensur wieder eingeführt wird, erwachsen dem Theater daraus große Probleme. Noch im selben Jahr muß es Konkurs anmelden und schließen.
In der Folgezeit wird das Gebäude verschiedenen Verwendungszwecken zugeführt. Zeitweilig nutzt man es als Wollmagazin, später als Wohnhaus. Das letzte Kapitel in der Geschichte des Hauses bricht schließlich mit der Jahreswende 1893/94 an, als im Gebäude des ehemaligen Theaters August und Karl Aschinger eine ihrer “Bier-Quellen” eröffnen. Es ist die vierte in der Stadt. Später kommen eine Konditorei und eine Gaststätte hinzu. Gegen Ende des Jahrhunderts unterhält Aschinger in der Nähe des Königstädtischen Theaters in fünf Stadtbahnbögen gegenüber dem Polizeipräsidium seinen zentralen Küchen- und Lagerbetrieb.
1927 ist das Jahr, in dem die Geschichte dieses Hauses endgültig endet. Das ehemalige Königstädtische Theater ist den großen Umbauplänen für den Alexanderplatz im Weg. Und obwohl man diese letztlich gar nicht umsetzen kann, wird das Gebäude abgerissen. An seiner Stelle errichtet man einige Jahre später das Alexanderhaus.