Die Berolina nach 1905

Die Geschichte der Berolina

Dieser Beitrag ist Teil 1 von 5 der Beitragsserie "Die Berolina"
Die Berolina auf dem Potsdamer Platz 1889
Die Berolina auf dem Potsdamer Platz im Jahre 1889. An ihrer weißen Farbe ist deutlich zu erkennen, daß es sich um das Original aus Gips handelt.
Quelle: Wikimedia Commons, Fotograf: F. Albert Schwartz (gest. 1906), Lizenz: gemeinfrei, da urheberrechtliche Schutzfrist erloschen.

Von denen, die heute über den Alex gehen, wie die Berliner ihren Alexanderplatz kurz und bündig und doch liebevoll nennen, wissen sicher nur noch ganz wenige, daß dieser Platz einst nicht einfach nur ein Platz, sondern auch das Zuhause der weiblichen Verkörperung der Stadt Berlin schlechthin war: der Berolina, die ein halbes Jahrhundert an dieser Stelle stand, die Besucher der Stadt begrüßte und den Berlinern hoch und heilig war. Heute ist sie nahezu vergessen und kaum jemand erinnert sich noch an ihre Geschichte, die so wechselvoll war und ein so trauriges Ende nahm. Damit dies nicht so bleibt, soll sie hier erzählt werden.

Sie beginnt im Jahre 1889, gegen Ende des Monats Mai, damit, daß das italienische Königspaar Umberto I. und Margherita dem Deutschen Kaiser Wilhelm II. einen Besuch abstatten will. Es ist nicht das erste Mal, daß die beiden die Stadt besuchen. Bereits 1872 waren sie schon einmal dagewesen, um bei der Taufe der nach der italienischen Königin benannten Prinzessin Margarete, einer Tochter des damaligen Kronprinzen Friedrich Wilhelm und nachmaligen Kaisers Friedrich III., Pate zu stehen.

Der Kaiser möchte dem hohen Besuch etwas ganz Besonderes bieten und erteilt den Auftrag, ein Monumental-Standbild zu schaffen, das bei den Empfangsfeierlichkeiten am Bahnhof die königlichen Gäste grüßen soll. Diesen Auftrag erhält der Bildhauer Prof. Emil Hundrieser. Geboren am 13. März 1846 in Königsberg in Preußen, begann Hundrieser seine künstlerische Laufbahn zunächst als Gehilfe Rudolf Siemerings und studierte 1865/66 an der Berliner Akademie, der er später, ab 1892, auch angehörte. Eines seiner vielleicht bekanntesten Werke ist das Reiterstandbild Kaiser Wilhelms I. am Deutschen Eck in Koblenz.

Da bis zum Besuch des Königspaares am 21. Mai nicht sehr viel Zeit bleibt, stellt Hundrieser die Figur zunächst in Gips her. Und so entsteht eine übergroße Frauenstatue, die einen Kranz aus Eichenblättern und eine Mauerkrone trägt sowie ein Kettenpanzerhemd mit einer Kette darüber, an der das Amtszeichen des Stadtoberhauptes hängt. Zur Begrüßung der Gäste vollführt sie eine einladende Bewegung mit der linken Hand, in der sie zudem noch Blumen aus übergipstem Gewebestoff hält, die sich lose im Wind bewegen. Die Berliner legen ihr dazu die Worte in den Mund:

“Da nimm et doch, det Jemüse. Ick schenk et dir!”

Als Modell für die Riesendame dient Hundrieser eine ehemalige Berliner Blumenverkäuferin, die damals 26-jährige Anna Sasse, die auch anderen Berliner Künstlern wie Reinhold Begas und Adolph Menzel bereits Modell gestanden hatte.

Nach ihrer Fertigstellung wird die Figur auf dem Potsdamer Platz vor dem Potsdamer Bahnhof, wo das Königspaar aus Italien ankommt, aufgestellt – als Sinnbild bzw. Allegorie der Stadt versehen mit dem Namen Berolina, was im neulateinischen Sprachschatz der Name für Berlin ist. Es ist dies allerdings bereits damals nicht die erste Berolina, die es in der Stadt gibt: auf dem Belle-Alliance-Platz, dem heutigen Mehringplatz, hatte Kaiser Wilhelm I. zum Einzug der siegreichen Truppen aus dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 eine 11 Meter große Berolina-Statue aufstellen lassen. Und im Bürgersaal des Roten Rathauses hing bereits damals ein Gemälde von Johannes Mühlenbruch, das 1887 entstanden war und ebenfalls eine Berolina zeigte. Auch für dieses Bild hatte Anna Sasse Modell gestanden.

Ursprünglich nur für den königlichen Besuch geschaffen, gelingt es Hundriesers Berolina in sehr kurzer Zeit, die Herzen der Berliner zu erobern, die sie alsbald behalten wollen. Da die Gipsfigur, aufgestellt im Freien, der Witterung nicht lange standhalten kann, wird eine langlebigere Ausführung in Auftrag gegeben. Die Kosten bringen die Berliner durch freiwillige Spenden selbst auf, so daß die Firma Friedrich Peters die neue Figur nach den Plänen Hundriesers in Kupfer ausführt. Hundrieser nimmt gegenüber der früheren Gipsfigur einige leichte Veränderungen vor. So trägt die neue Berolina beispielsweise keine Blumen mehr in ihrer Hand.

Die Berolina auf dem Alexanderplatz Anfang des 20. Jahrhunderts
Diese Aufnahme der Berolina entstand Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts. Sie steht hier bereits vor dem Kaufhaus Tietz (links), das um 1904/05 gebaut wurde.
Quelle: Wikimedia Commons, Fotograf: unbekannt, Lizenz: gemeinfrei, da urheberrechtliche Schutzfrist erloschen.

Am 17. Dezember 1895 ist es dann soweit: Die neue Berolina wird aufgestellt. Sie hat den Potsdamer Platz allerdings verlassen und als ihren neuen Standort den Alexanderplatz auserkoren. An seiner Nordseite findet sie ihr Domizil, in nicht allzu großer Entfernung vom heutigen Brunnen. In den Jahren 1904 und 1905 wird hinter ihr das große Warenhaus Tietz errichtet, vor dem sie dann lange Jahre steht. Gute 100 Zentner schwer ist die Figur und erheblich größer als das Original aus Gips. Sie steht auf einem 6,25 Meter hohen roten Sockel aus schwedischem Granit, der Verkehr braust unter ihr hinweg. Trotz oder gerade wegen ihrer etwas üppigen Formen mögen die Berliner ihre Berolina, die sie liebevoll “Bärenlina” nennen. Als anmutig und üppig, aber dennoch leicht und sehr weiblich wird sie gern von ihnen beschrieben. Lange Jahre ist sie ein beliebter Treffpunkt der Berliner Pärchen.

Im Jahre 1911 stirbt ihr Schöpfer Emil Hundrieser, der 1905 zum Direktor des Rauchmuseums ernannt worden war, in Charlottenburg – am 30. Januar. Wenige Jahre danach gerät seine Berolina gegen Ende des Ersten Weltkriegs zum ersten Mal in ernste Gefahr. Im Sommer 1918 entgeht sie nur knapp der ihr drohenden Vernichtung, als das deutsche Militär sie zur Munitionsgewinnung einschmelzen lassen will. Glücklicherweise kommt es durch das Kriegsende nicht mehr dazu. In den nachfolgenden Kämpfen der Novemberrevolution bekommt sie allerdings zahlreiche Kugeleinschläge ab, als die Aufständischen am Alexanderplatz das Polizeipräsidium belagern, welches sich dort befindet, wo heute das Alexa steht. Doch auch diese Wirren übersteht sie schließlich ohne ernsthafte Schäden.

In den zwanziger Jahren wächst Berlin unter den Augen seiner Berolina zu einer großen und verkehrsreichen Stadt. Das bleibt natürlich auch und gerade am Alexanderplatz nicht ohne Folgen – und damit auch nicht für die Berolina selbst. Die Verkehrsmittel werden mehr und mehr ausgebaut, um die großen Menschenströme noch bewältigen zu können, was insbesondere für die U-Bahn gilt. Und dieser steht die Berolina schließlich, nachdem sie 32 Jahre lang den Platz beherrscht hatte, im Wege. Im Zuge der Bauarbeiten für die Untergrundbahn, die den ganzen Platz in eine Großbaustelle verwandeln, wird sie 1927 von ihrem Standort entfernt und an einem sicheren Ort untergebracht: in einen eigens für sie errichteten einfachen Schuppen auf einem Lagerplatz der städtischen Tiefbauverwaltung an der Treptower Chaussee, nahe dem S-Bahnhof Treptower Park.

Und obwohl ihre Abwesenheit zunächst nur vorübergehend sein soll, kehrt die Berolina so schnell nicht auf ihren Platz zurück. Dies wird von einer Behördenposse verhindert, die im Jahre 1929 beginnt.

Obwohl die Berliner die Statue wegen ihrer etwas üppigen Formen gerne belästert und bespöttelt haben, haben sie sie trotzdem stets gemocht. Dennoch gab es immer auch einige Kritiker, die ihren künstlerischen Wert stets auf’s Neue bezweifelt haben. Dies nimmt der Magistrat von Berlin im Jahre 1929 zum Anlaß, um offiziell mitzuteilen:

“Der Magistrat beschloß, von einer abermaligen Aufstellung der Berolina aus künstlerischen Rücksichten Abstand zu nehmen. Die Bronze-Statue soll vielmehr veräußert werden.”

Dieser Entscheid findet bei einem Großteil der Berliner Bevölkerung jedoch keinen Anklang, sondern trifft auf mehr oder weniger heftigen Widerspruch, den auch die Medien der damaligen Zeit aufgreifen. So kommentiert beispielsweise die VAZ am 19. April 1929:

Daß unser hochlöblicher Magistrat in seiner derzeitigen Zusammensetzung keinen historischen Sinn, ja, nicht einmal das leiseste Gefühl für das Vorhandensein dieses Sinnes bei dem gebildeten Teile seiner Bürgerschaft hat, ist nichts Neues mehr. Daß er aber, um dieses Manko zu bemänteln, ‘künstlerische Rücksichten’ vorschiebt, ist entweder ein Zeichen mangelnden Mutes oder ein schlechter Witz.”

Die Verteidiger der Berolina fordern, die Statue wenn schon nicht am Alexanderplatz, so doch wenigstens an einem anderen Ort in Berlin aufzustellen. Dafür werden zahlreiche Vorschläge gleich mitgeliefert: am Eingang des Friedrichshains, an einem der Havelseen, am Baltenplatz, an der Fangschleuse…

Doch die Berolina bleibt ernsthaft von der Vernichtung bedroht. Verschiedene Angebote für den Ankauf werden unterbreitet. Insgesamt sind es fünfzehn. So kommt eines von einer Metallfirma, die das dicke Kupferblech zum Einschmelzen erwerben will. Ein Berliner Kaffeehausbesitzer will sie für den reinen Metallpreis, etwa 8000 Mark, erwerben und sie auf einer Kaffeeterrasse und Bar auf einem Kurhausgrundstück in Krummensee bei Königs Wusterhausen aufstellen. Ein weiterer Gastwirt möchte sie für sein Etablissement bei Onkel Toms Hütte.

Doch der Druck der öffentlichen Meinung auf den Magistrat wächst. Und wie es Politiker auch heute noch tun, wenn sie keine Entscheidung treffen können oder wollen, ruft der Magistrat im Mai 1929 einen Ausschuß ins Leben, bestehend aus dem Oberbürgermeister, drei Stadträten, einem Gartenbaudirektor und einem Magistratsbaurat, der die Möglichkeit der Aufstellung der Berolina an anderer Stelle ebenso prüfen soll wie auch die Frage der Schaffung einer neuen Berolina für den Flughafen Tempelhof. Damit geht das Hin und Her erst richtig los. Viele weitere Vorschläge kommen ins Gespräch, werden diskutiert, führen zu Standortbesichtigungen und werden wieder verworfen, ohne daß man einer Entscheidung näherkäme. Einige der diskutierten Standorte sind diesmal der Westhafen, der Landsberger Platz, der Küstriner Platz, das Engelbecken und schließlich auch der Plänterwald an der Spree, der zwischenzeitlich sogar ernsthaft favorisiert wird. Verschiedene Verwaltungsbezirke von Berlin bemühen sich um die Berolina und wollen ihr in ihrem Gebiet einen neuen Standort geben.

Am Ende seiner überaus schwierigen Arbeit kommt der Ausschuß dann doch zu einem Ergebnis. Dieses besteht in der Ignorierung sämtlicher Vorschläge und der Befürwortung der Einschmelzung der Berolina. Da künstlerische Rücksichten ein zu heikler Grund sind, werden diesmal finanzielle Gründe bemüht: die Kosten für den Transport des Standbildes von dem Treptower Schuppen bis zu seinem zukünftigen Aufstellungsort, wo auch immer der ist, werden mit 36 000 Mark beziffert. Dazu werden Baukosten für die “gartenbaukünstlerische Umgebung” der Statue von 15 000 Mark angegeben. Man geht also von insgesamt 51 000 Mark aus, die eine Wiederaufstellung der Berolina kosten würde. Da dies zu teuer sei, wolle man die Statue nun doch nicht mehr aufstellen, sondern wieder veräußern.

Doch wieder ist die Öffentlichkeit mit der Entscheidung nicht einverstanden. In den Medien wird die aufgestellte Rechnung angezweifelt, die Wiederaufstellung weiterhin gefordert. So schreibt die Deutsche Allgemeine Zeitung (DAZ) am 18. August 1929:

“Wir möchten […] den verantwortlichen Stellen raten, mit den Erwägungen Schluß zu machen und sich zu einer Tat aufzuschwingen, die bei jedem wirklichen Berliner Verständnis finden und Freude auslösen würde, nämlich zur Wiedereinsetzung der Berolina an einem neuen Platz in ihre alten Rechte.”

Auch der Senat der Preußischen Akademie der Künste unter ihrem Präsidenten Max Liebermann befaßt sich mit der Wiederaufstellung der Berolina und befürwortet einen Vorschlag ihres Mitglieds Prof. Manzel, der die Wiederaufstellung auf dem Baltenplatz, dem heutigen Bersarinplatz, vorsieht.

Und wieder wird die Entscheidung vertagt. Dann bricht die Weltwirtschaftskrise herein und die Menschen haben ganz andere Sorgen. Und so geschieht mehrere Jahre lang nichts. 1932 liegt die Berolina immer noch in ihrem Schuppen am Treptower Park an der Spree und vertrauert dort ihr Dasein.

Im Mai 1933 passiert dann plötzlich doch etwas. Der Stadtrat Engel tritt vehement für die Wiederaufstellung der Berolina ein und stellt in einer Sitzung des Berliner Magistrats einen entsprechenden Antrag, der umgehend angenommen wird. Ausschlaggebend dürfte dabei allerdings nicht zuletzt die Zusage der Berolina-Grundstücksgesellschaft sein, die Kosten für die Wiederaufstellung zu übernehmen. Und so geschieht, womit fast niemand mehr gerechnet hatte: Am 10. Oktober 1933, nach sechs langen Jahren im Treptower Schuppen, beginnt mit der Errichtung eines Sockels die Rückkehr der Berolina auf den Alexanderplatz.

Sie erhält allerdings nicht mehr ihren alten Standort zurück, denn dort befindet sich nun ein U-Bahn-Eingang. Sie wird daher an der Südseite des Platzes aufgestellt, direkt vor dem Alexanderhaus, nicht allzu weit von der Stelle entfernt, an der sich heute die Weltzeituhr befindet. Dort ist allerdings für den alten wuchtigen Sockel aus rotem Granit nicht mehr genügend Platz, so daß die Statue einen ganz neuen zylindrischen Sockel aus Eisenbeton erhält, der mit Basalt ummantelt ist, einen Durchmesser von 3 Metern und eine Höhe von etwas mehr als 6 Metern besitzt und auf einer Stufenplatte von 8 Metern Durchmesser steht. Figur und Sockel sind damit zusammen imposante 14 Meter hoch.

Am 28. Oktober 1933 ist es dann schließlich soweit: Die Figur wird aus dem Schuppen geholt und am Alexanderplatz auf den Sockel gehoben. Am 10. Dezember folgt dann die Einweihungsfeier für das zurückgekehrte Standbild – im Beisein der Frau, die einst für die Berolina Modell gestanden hatte: Anna Fellgiebel, geb. Sasse, mittlerweile siebzigjährig.

Die neuen Machthaber im Lande lassen es sich natürlich nicht nehmen, diese Feier unter faschistischem Getöse mit viel Nazi-Symbolik, Hakenkreuzbannern und preußischer Militärmusik abzuhalten. Reden werden gehalten, unter anderem von Stadtrat Engel und Staatskommissar Dr. Lippert, der später eine schmähliche Rolle bei der Übernahme des Glienicker Parks in den Besitz der Stadt Berlin spielen wird. Man macht die Berolina zu einer Art Symbol des von den Machthabern als Nationalsozialismus bezeichneten Faschismus und rühmt sich, sie den Berlinern wieder zurückgegeben zu haben.

Fünf Jahre später, am 23. Dezember 1938 stirbt Anna Fellgiebel, die Frau, die die Berolina war und zuletzt sehr zurückgezogen in der Potsdamer Straße gelebt hatte, im Alter von fünfundsiebzig Jahren. So muß sie, die in den sechs Jahren von 1927 bis 1933 stets die Abwesenheit der Berolina vom Alexanderplatz bedauert hatte, das letzte traurige Kapitel in der Geschichte dieses Standbildes nicht mehr miterleben.

Die Faschisten, die sich 1933 noch damit gebrüstet hatten, den Berlinern ihr Standbild wiederbeschafft zu haben, sind nur neun Jahre später selbst diejenigen, die das Ende der Berolina endgültig herbeiführen. 1942 setzen sie sie auf eine Liste von 191 Denkmälern und Plastiken, die als “künstlerisch unbedeutend” eingestuft und damit der Metallreserve überantwortet werden, was nichts anderes heißt, als daß sie als Material für Hitlers Kanonen und deren Munition verwendet werden sollen. Im Falle der Berolina verhindern jedoch abermals Proteste der Bevölkerung dieses Vorhaben, doch leider nicht mehr für lange. Noch im selben Jahr ist die Berolina plötzlich erneut von ihrem Platz verschwunden. Sie wird von ihrem Sockel heruntergeholt, mitten auf dem Alexanderplatz der Länge nach zersägt und zu einem Güterbahnhof in der Nähe der Sonnenallee geschafft. Hier verläßt sie Berlin für immer, von hier verliert sich ihre Spur. Mit ziemlicher Sicherheit wird sie schließlich eingeschmolzen. Lediglich ihr Sockel übersteht die Demontage durch die Faschisten und den späteren Bombenhagel auf die Stadt, der dieser beinahe dasselbe Schicksal bereitet, wie es ihrem Sinnbild widerfahren ist – die Vernichtung.

Anfang der fünfziger Jahre werden die Basalt-Platten, die den Betonsockel umgeben, als begehrtes Baumaterial abmontiert und bei der Anlage von Gehegen im Berliner Tierpark Friedrichsfelde verwendet, der 1955 eröffnet wird. 1958 wird dann der Alexanderplatz in der DDR völlig umgestaltet. Dabei muß auch der Sockel der Berolina, der bis dahin noch als Litfaßsäule gedient hatte, endgültig weichen. Wo er geblieben ist, weiß niemand mit Sicherheit. Angeblich soll er unter dem Parkplatz am Müggelturm liegen, einem der vielen Orte in Berlin, wo man den Bauschutt aus den Kriegszerstörungen endlagerte. Nun, da nichts mehr von ihr geblieben ist, gerät die Berolina in der Bevölkerung langsam in Vergessenheit.

Bis 1993. In diesem Jahr wird ein Wettbewerb zur Gesamt-Neugestaltung des Alexanderplatzes ausgeschrieben, für den Stadtentwicklungssenator Volker Hassemer 15 Architektenteams beauftragt. Dabei erinnert man sich plötzlich wieder der Berolina und des anstehenden hundertsten Jahrestags ihrer Aufstellung auf dem Platz, der im Jahre 1995 bevorsteht. Die Einbeziehung der Statue in den Entwurf für die Neugestaltung des Platzes ist den Ausschreibungsunterlagen zufolge vorgeschrieben. Die Kosten für die Wiederaufstellung der Berolina werden mit knapp 2 Millionen Mark geschätzt. Geworden ist aus diesen Plänen jedoch nichts. Der hundertste Jahrestag verstrich, ohne daß das Standbild wieder auf dem Alexanderplatz erschienen wäre…

Dennoch zeigt diese Episode, daß die Geschichte der Berolina vielleicht doch noch nicht zu Ende ist. Denn eine Wiederherstellung ist durchaus möglich. Zwar gibt es die originale Gipsfigur nicht mehr, und es wurden auch niemals wie bei der Quadriga Schutzabgüsse angefertigt. Doch soll sich eine Nachbildung der Berolina im Quirinalspalast in Rom befinden, die König Umberto I. anläßlich seines Besuchs in Berlin verehrt worden war, als er sich so begeistert von der Statue zeigte, daß er sich eine kleine Nachbildung wünschte. Aber darauf wäre man gar nicht angewiesen, denn es gibt noch eine kleine Zwillingsschwester der Berolina in Berlin: Das Märkische Museum ist im Besitz einer Replik, die ebenfalls von Hundrieser geschaffen wurde. Sie ist zwar nur etwas weniger als 31 Zentimeter groß, dennoch würde sie für eine originalgetreue Wiederherstellung der Berolina ausreichen – ein technisches Problem gibt es nicht, wie Experten bereits bestätigt haben.

Doch wie bei jeder schönen Idee gibt es auch hier Gegner, die in diesem Fall die Wiedererrichtung der Berolina ablehnen und dabei im wesentlichen mit den gleichen Argumenten aufwarten, wie sie schon 1929 in die Debatte geworfen wurden: die frühere Statue sei künstlerisch wertlos und nicht mehr zeitgemäß, die Kosten seien zu hoch. Darüberhinaus wird sie als Symbol des wilhelminischen Berlins betrachtet und die Idee ihrer Wiedererrichtung als rückwärtsgewandt kritisiert. Stattdessen sei eine neue, eine zeitgemäße Berolina nötig. Die Befürworter halten entgegen, Berlin sei nicht gerade reich an Überliefertem, besonders am Alexanderplatz, wo heute kaum noch etwas von seinem früheren Erscheinungsbild vorhanden sei. Und im Angesicht eines Wiederaufbaus des Berliner Stadtschlosses sei das Argument der Rückwärtsgewandtheit auch nicht wirklich aufrechtzuerhalten. Mag die alte Berolina vielleicht auch ein wenig kitschig gewesen sein, auf jeden Fall ist sie ein Stück Berlin, das verloren ist. Und der Weg in die Zukunft ist letztlich ohne die Besinnung auf die Vergangenheit auch nicht möglich.

Im Jahr 2000 gründet sich zur Forcierung der Bemühungen der ”Förderverein Wiederherstellung und Pflege der Berolina e.V.”, der intensiv dafür wirbt, die einst so beliebte Frauengestalt wieder auf den Platz zu bringen. Doch genau wie Ende der zwanziger Jahre der Berliner Magistrat bleibt auch der heutige Senat unschlüssig. Man verweist darauf, daß keine Gußform mehr existiere, der ursprüngliche Standort zu nah an der Weltzeituhr liege, die Meinungen zur Berolina “recht verschieden” seien… Trotzdem bemüht sich der Verein weiter und es gelingt ihm sogar, Angebote von drei Firmen zu erhalten, die die Berolina rekonstruieren wollen. Die Kosten dafür betragen 600 000 Euro, die man über eine Spendenaktion unter den Berlinern aufbringen will.

2002 wird am Hausvogteiplatz die von den Gegnern der historischen Berolina gewünschte “zeitgemäße” Figur aufgestellt, die jedoch mit dem dort befindlichen Haus zur Berolina verbunden ist und nicht mit der Monumentalfigur vom Alexanderplatz. Im selben Jahr gibt es wieder einmal einen Wettbewerb für die Neugestaltung des Alexanderplatzes. Doch diesmal ist die Einbeziehung der Berolina nicht mehr vorgeschrieben, es bleibt den Wettbewerbsteilnehmern überlassen, ob sie sie in ihren Entwurf integrieren oder nicht. Währenddessen bemüht sich der Förderverein weiter, Geld für die Wiederherstellung der Statue aufzutreiben. Nach Abdrücken von der Replik im Besitz des Märkischen Museums werden Miniaturen der Berolina hergestellt, die großzügigen Spendern als Dankeschön verehrt werden.

Doch wieder einmal stellen sich die politisch Verantwortlichen quer. 2005 streicht die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung die Berolina vollständig aus den Umgestaltungsplänen für den Alexanderplatz – aus städtebaulichen Gründen, wie es nebulös heißt. Bleibt es dabei, wird die Berolina wohl nie mehr auf den Platz zurückkehren. Der Förderverein sucht nun jedenfalls nach einem neuen Standort für die Statue.

Und so verstreicht Jahr um Jahr. Der Alexanderplatz wurde inzwischen neu gestaltet, ein neues Gebäude wurde errichtet. Fruchtlos werden Argumente dafür und dagegen ausgetauscht, gebracht hat es gar nichts. Die Berolina, die die Berliner einst so sehr liebten, daß sie sie unbedingt dauerhaft auf dem Alex haben wollten, kommt so nicht wieder…

Berolina
Bärenlina
SeriennavigationGeschichten um die „Bärenlina“ >>

Creative Commons LizenzvertragDieser Text von Anderes.Berlin ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen dürfen Sie ihn verbreiten und vervielfältigen.