„Haste schon jehört? Die ollen Kolonnaden wer’n nu janz abjerissen!“
Die Stimme des stämmigen Kerls am Tresen dröhnt laut über das Stimmengewirr in der Eckkneipe hinweg. Während er sein Bierglas zum Mund führt und genüßlich einen kräftigen Zug nimmt, um sich anschließend den Schaum mit dem Handrücken vom Mund zu wischen, winkt sein Gesprächspartner, ein eher schmächtiger, kleiner Kerl mit Schiebermütze, die er verwegen ins Genick geschoben hat, gelangweilt ab.
„Ach, det Jerücht kenn ick. Det kommt imma wieda. Det erste Mal hab ick det schon jehört, als se dem Spittelmarkt seine Trümmer wegjeräumt ham.“
„Aba diesma isset wahr!“, erwidert der andere.
„Du gloobst och allet, wa? Det machen die nich. Wär ja och schade um det olle Ding. Ick denke, die bau’n det sogar irjendwann wieda uff.“
„Nee, nee!“ Der Stämmige bleibt hartnäckig. „Ick weeß janz jenau, det tut stimmen!“
„Ach wat! Woher willste denn det so jenau wissen? Det wird sein wie damals inne Vierz’jer, als det och jeder erzählt hat. Da hat det sogar inne Zeitung drinne jestand’n, daß det Unsinn is. Wenn ick mir nich irre, ham se später sogar jeschrieb’n, det die Berliner stolz wär’n uff ihre Spittelkolonnaden. Fand ick damals bißken dick uffjetragen, wenn de mich fragen tust. Aber jestimmt hat’s, daß det nich jestimmt hat, denn wie de siehst, stehen die heute noch!“
„Ja, aber se sin immer noch ziemlich ruinös, findste nich? Da tun mittlerweile sogar Bäume druff wachsen. Hätten se doch inzwischen längst ma wieder uffbau’n könn’…“
„Ach papperlapapp!“, fährt der Schmächtige seinem Freund in die Parade. „Wovon denn? Erst ma müssen se doch dafür sorjen, det jenug Wohnungen da sind. Da is keen Jeld nich da für so Schmuckjedöns inne Stadt! Aber kannste mir glooben, irjendwann wird det wieda. Da bauen se die wieder uff.“
„Nee, tun se nich“, erklärt der andere, während seine dröhnende Stimme vor Ärger darüber, daß sein Freund ihm nicht glauben will, nochmal an Lautstärke zulegt. „Det weeß ick janz jenau!“
„Na, da bin ick jetze aber mal jespannt, wieso ausjerechnet Du det so jenau wissen willst“, erklärt der Schmächtige in abfälligem Tonfall und blickt gelangweilt unter dem Schirm seiner Mütze hervor.
„Na, weil… weil…“ Der Stämmige verhaspelt sich vor Aufregung. Offenbar kommt es nicht allzu oft vor, daß er seinem dürren Freund etwas an Wissen voraus hat.
„Siehste, Du tust det nich wissen. Is wie imma, wenn De…“
„Wir soll’n se abreiß’n“, platzt es aus dem Stämmigen heraus.
„Wer ‚wir‘?“ fragt sein Freund ungläubig.
„Na, mein Bautrupp und icke! Wir ham den Auftrag, die olle Kolonnade abzutragen. Gleich morgen früh jeht’s los! Wir müss’n janz vorsichtig sein, ham se uns jesagt, weil se allet, wat noch irgendwat taugt, uffheben woll’n. Wir dürfen nich mehr kaputt machen als so schon is. Aber am Ende soll de Kolonnade komplett weg sein.“
Als sein Freund nichts darauf erwidert und ihn stattdessen mit offenem Mund anstarrt, schlägt sich der Stämmige mit einem kräftigen Schlag selbst vor die Brust und erklärt stolz:
„Hätt’ste nich jedacht, wa?“
Als sein Freund ihn immer noch sprachlos ansieht, klopft er ihm tröstend auf die Schulter. „Sei man nich traurig. Komm, ick spendier Dir noch’n Bier! Det ick mal mehr weeß als Du… den Moment muß ick jenießen!“
Das Gerücht, der im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigte, jedoch im großen und ganzen erhalten gebliebene nördliche Säulengang der Spittelkolonnaden werde bald abgerissen, gibt es tatsächlich schon relativ kurze Zeit nach Kriegsende. Am 23. Januar 1947 berichtet die Neue Zeit über den Zustand des Bauwerks und bemerkt froh, daß eben jenes Gerücht nicht stimme. Knappe fünf Jahre später, am 6. Januar 1952 schreibt die gleiche Zeitung, die Kolonnaden seien einseitig erhalten und die Berliner stolz darauf.
Während man im Zuge der in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre durchgeführten Enttrümmerung auch des Spittelmarkts Teile des plastischen Schmucks der Kolonnaden geborgen und zwischenzeitlich in der Nationalgalerie eingelagert hatte, fehlt es, wie der eine der beiden Kneipenbrüder ganz richtig festgestellt hatte, an den Möglichkeiten, die verbliebene Kolonnade wieder instandzusetzen. Daran ändert sich auch in den fünfziger Jahren nichts, so daß man sich um das Jahr 1960 herum entschließt, die Ruine des nördlichen Säulenganges abzutragen. Man will das Gebiet um den Spittelmarkt herum komplett wiederaufbauen, wobei es allerdings neu gestaltet werden soll. Dabei ist die Kolonnade im Weg. Bei ihrem Abbruch werden wiederum jedes halbwegs erhaltene Bildwerk und jeder einigermaßen brauchbare Stein geborgen und eingelagert. Im Ergebnis sind nun die Spittelkolonnaden vollständig aus dem Stadtbild verschwunden.
Ein Silberstreif
Der Wiederaufbau der Gegend um Spittelmarkt und Leipziger Straße beginnt etwa zehn Jahre später, als im Rahmen des Berliner Wiederaufbauprogramms der Deutschen Demokratischen Republik die Planungen für die Leipziger Straße beginnen. Diese sehen eine weitestgehend veränderte Straßenführung vor. Die Beuth- und die Lindenstraße verlieren ihre Verbindung zum Spittelmarkt, zu dem lediglich noch die Seydelstraße führt. Die Leipziger Straße wird zwischen Spittelmarkt und Charlottenstraße als große Magistrale mit acht Fahrspuren und einem Mittelstreifen angelegt, die über den Spittelmarkt führt und in die ebenso breite Gertraudenstraße übergeht, für die neben der Gertraudenbrücke eine neue Straßenbrücke errichtet wird. Als Bebauung sieht die Planung für die Leipziger Straße zu beiden Seiten Wohnhäuser vor. Auf der vom Spittelmarkt aus gesehen rechten Seite sind das Gebäuderiegel mit vierzehn Stockwerken, auf der anderen vier paarweise angeordnete Wohnhochhäuser mit 23 und 25 Etagen. Der alte Dönhoffplatz wird dafür komplett aufgelöst. Auf seiner Fläche errichtet man das zweite der Wohnhochhäuser, die ihn einst begrenzende Jerusalemer Straße verschiebt man zwischen Leipziger und Krausenstraße um etwa achtzig Meter nach Osten, so daß sie bis heute eine merkwürdig unterbrochene Straßenführung aufweist.
Vielleicht als Gegengewicht zum vollständigen Abriß aller noch vorhandenen Altbauten in diesem Straßenabschnitt plant man von Anfang an die Wiedererrichtung der Spittelkolonnaden mit ein. In der Neuen Zeit vom 12. November 1969 liest sich die Begründung für diese Entscheidung so:
Als eine architektonische Kostbarkeit werden am Dönhoffplatz die Spittelkolonnaden wiedererstehen, getreu dem Prinzip, daß im Sozialismus all das bewahrt wird, was von hohem künstlerischem Wert der Vergangenheit zeugt.
Nun, der Dönhoffplatz, von dem hier die Rede ist, wird nach der Umsetzung der Planung nicht mehr existieren. Als Standort für die Kolonnaden ist der Platz zwischen dem ersten und dem zweiten Wohnhochhaus auf der linken Straßenseite vorgesehen.
Während diese Planungen Gestalt annehmen, überführt man 1971 die vier eingelagerten, aus Sandstein bestehenden Puttengruppen der Spittelkolonnaden ins Lapidarium des Märkischen Museums. Zwei davon werden ein Jahr später im das Museum umgebenden Köllnischen Park aufgestellt, nachdem sie von einer Bildhauerbrigade des VEB Stuck und Naturstein grundlegend restauriert worden waren.
Die erste Gruppe zeigt einen sitzenden und einen stehenden Putto. Ersterer trägt einen Helm mit Helmbusch, während der zweite ein Fahnentuch hochhält. Zwischen beiden Figuren befindet sich ein Schild. Diese Puttengruppe stand vormals auf der nördlichen Kolonnade zur vom Betrachter aus gesehenen rechten Seite der großen Kartusche auf dem Mittelpavillon. Weil die Gruppe noch recht gut erhalten ist, müssen die Bildhauer bei der Restauration nur wenige Teile nachbilden.
Die zweite im Köllnischen Park aufgestellte Gruppe zeigt einen sitzenden Putto mit Helm und Helmbusch, der einen Schild hält. Rechts daneben steht ein Putto mit geflügeltem Helm und einem Fahnentuch, zwischen dessen Beinen ein Rutenbündel liegt. Auch diese Gruppe stammt von der nördlichen Halle und stand dort zur linken Seite der großen Mittelkartusche. Sie ist allerdings schwerer beschädigt als die erste. Der sitzende Putto ist fast völlig zerstört und wird von den Bildhauern neu geschaffen. Man stellt diese Gruppe vor der Spolienwand auf der Terrasse am Märkischen Museum auf.
Mitte der 1970er Jahre schreitet der Neubau der Leipziger Straße bereits gut voran. Auf der linken und der rechten Seite werden die geplanten Wohnbauten und Gebäude für Geschäfte errichtet. Nun ist der alte Dönhoffplatz endgültig verschwunden. Folgerichtig löscht man 1975 den Namen Dönhoffplatz endgültig. Die freie Fläche zwischen dem ersten und zweiten Wohnhochhaus auf der in Westrichtung gesehen linken Seite der Leipziger Straße gestaltet man als Grünanlage mit Spiel- und Sportplatz. Sie ist der geplante Aufstellungsort für die Spittelkolonnaden, die damit etwa einhundert Meter westlich von ihrem einstigen Standort neu erstehen sollen. Die Wiederaufstellung nimmt zwei Jahre später konkrete Formen an, denn sie ist fest für den 30. Jahrestag der Gründung der DDR am 7. Oktober 1979 eingeplant.
Die Wiederauferstehung
Aber noch ist es nicht soweit. Zunächst müssen die für das Bauwerk benötigten Teile neu geschaffen werden. Die Bildhauerwerkstatt des VEB Stuck und Naturstein ist 1977 mit der Rekonstruktion der Anlage beschäftigt, die allerdings nur die südliche Kolonnade umfaßt, wie den zeitgenössischen, den Wiederaufbau begleitenden Artikeln der in der DDR erscheinenden Zeitungen zu entnehmen ist. Spätere, in der Nachwendezeit veröffentlichte Publikationen sprechen hingegen von einer Kopie der nördlichen Kolonnade. Die Wahrheit liegt – wie so oft – in der Mitte.
Einerseits soll der neu entstehende Säulengang auf der südlichen Seite der Leipziger Straße errichtet werden. Andererseits verwendet man für ihn einige wenige der in der Nationalgalerie eingelagerten Bauteile, die von der ehemaligen nördlichen Kolonnade stammen. Sie sollen nun in den neuen Säulengang eingebaut werden. Für die auf dem Dach plazierten Puttengruppen stellt man Repliken derjenigen aus dem Köllnischen Park her, die ebenfalls ursprünglich auf dem nördlichen der beiden ehemaligen Säulengänge standen. Aus noch vorhandenen Bruchstücken des Giebelschmucks fertigt man Kopien an und stellt fehlende Teile neu her. Dafür werden allerdings die beim Abriß der südlichen Kolonnade in den dreißiger Jahren angefertigten Zeichnungen und Modelle verwendet, auf deren Grundlage man zunächst Gipsmodelle erstellt, die dann als Vorlage für die originalgetreue Kopie in Stein dienen. Auf diese Weise entstehen 26 Pilasterkapitelle mit Voluten, zehn Säulenkapitelle, die beiden Puttengruppen und die Mitteltrophäe auf dem Dach.
Auch insgesamt zwanzig große Dachvasen werden auf diese Weise neu geschaffen, von denen jede eineinhalb Meter hoch und acht Zentner schwer ist. Das ist insofern bemerkenswert, weil die beiden Säulengänge der Spittelkolonnaden ursprünglich zusammen nur zwanzig dieser Dachvasen besaßen. Der Grund für die gewissermaßen verdoppelte Anzahl Vasen liegt darin, daß man beim Wiederaufbau des Säulenganges auf die ursprünglichen hinter den Kolonnaden liegenden Räume für die Händler verzichtet. Das Bauwerk soll nun frei stehen. Daraus ergibt sich jedoch das Problem, daß dies für die Spittelkolonnaden eine völlig neue Situation darstellt. Ihre Rückseite war bisher nie frei gewesen, weil sich dort stets Läden oder Häuser befunden hatten. Für das Aussehen der Rückansicht ist folglich nichts überliefert. So muß eine neue, sehenswerte Lösung gefunden werden. Für die Rückwand wählt man eine Gestaltung, deren Struktur der Innenseite entspricht, allerdings ohne die dort anzutreffenden Reliefs. Die Dachkante formt man hingegen als Kopie der Vorderseite. Man möchte auch dort steinerne Vasen aufstellen, deren jede ein entsprechendes Pendant am vorderen Rand des Bauwerks besitzen soll.
Für die Säulen der Kolonnade werden jeweils vier Segmente geschaffen, aus denen sie zusammenzusetzen sind. Jedes dieser Segmente wiegt etwa eine Tonne. Für das gesamte Bauwerk verwendet man Sandstein, der aus den Steinbrüchen Cotta und Reinhardsdorf sowie den Sandsteinwerken bei Pirna, dem VEB Elbe-Naturstein, stammt. Benötigt werden insgesamt zweihundert Tonnen beziehungsweise 600 Kubikmeter Sandstein, die als 1478 große Sandsteinblöcke in der Kolonnade verbaut werden.
Die Bauteile und insbesondere die Plastiken schützt man durch die Verwendung eines Steinkonservierungsmittels, was die Neue Zeit am 10. Oktober 1978 zu der Prognose veranlaßt:
So werden sie [die Plastiken – Anmerkung des Autors] – falls die Luftverschmutzung nicht stark zunimmt – jahrhundertelang von ihrem Gesims auf die Berliner herabschauen können.
Nun, diese Voraussage dürfte bei den mit dem heutigen Verkehrsaufkommen einhergehenden Verschmutzungsverhältnissen sicher hinfällig sein. Weniger weit in die Zukunft blickt hingegen die Berliner Zeitung am 28. Dezember 1978, als sie vorausschauend bemerkt:
Das spätbarocke Rondell mit seinen Putten und Vasen wird in der Grünanlage eine reizvolle und vielseitig anregende Ergänzung sein und ein interessanter Gegensatz zugleich zu den monumentalen Wohnhochhäusern, modernen Geschäften und Gaststätten und dem pulsierenden Leben der Leipziger Straße.
Der Aufbau der Kolonnade, die in der DDR als architekturgeschichtliches Denkmal betrachtet wird, beginnt im Juni 1979 – ein Zeitpunkt, der für den angepeilten Fertigstellungstermin jedoch zu spät ist. Weil die Kolonnade immer noch im Bau ist, wird die geplante Einweihung zum 30. Geburtstag der Republik am 7. Oktober des Jahres knapp verpaßt. Sie findet daher zwei Monate später am 15. Dezember 1979 statt. Wie die Zeitungen der DDR, die das Ereignis aufwendig begleiten, berichten, verliest Brigadier Gerhard Wohlgemuth vom VEB Stuck und Naturstein Berlin den Richtspruch für das Bauwerk, der mit den Worten beginnt:
Die Spittelkolonnaden sind vollendet.
Was Gontard meisterhaft entwarf,
durch uns’re Arbeit ist es neu entstanden.
Und er schließt:
Was wir erneut geschaffen haben,
soll nun überdauern,
es soll in Frieden diese Straße zier’n.
Wir übergeben also dieses Bauwerk
an alle Bürger unsrer Stadt –
ein jeder möge es bewahren helfen.
Und Dank zu sagen bleibt dem Volk,
im Sozialismus Bauherr und Erbauer.
Dazu stellt die Berliner Zeitung am selben Tag ideologisch sicher fest:
In der Hauptstadt der sozialistischen DDR, wo alle guten und fortschrittlichen Traditionen gepflegt und erhalten werden, ist der Wiederaufbau der Kolonnaden folgerichtig.
An dem wiedererrichteten Bauwerk werden zwei bronzene Gedenktafeln angebracht. Die erste, noch heute dort zu findende Tafel trägt die Inschrift:
Spittelkolonnaden
1776 nach Plänen von Carl von Gontard als Schmuck der Brücke über den alten Festungsgraben erbaut.
Im faschistischen Raub- und Eroberungskrieg zerstört.
1979 von der Arbeiter-und-Bauern-Macht wiedererrichtet.
Die zweite Tafel würdigt die am Wiederaufbau Beteiligten:
An der Wiederherstellung der Spittelkolonnaden beteiligte Betriebe:
VEB Stuck- und Naturstein Berlin
VEB Elbe-Naturstein Dresden
VEB Wohnungsbaukombinat Berlin
VEB Grünanlagenbau Berlin
VEB Energiekombinat Berlin
VEB Kombinat Geodäsie und Kartographie
Diese Tafel nimmt man 1990 ab. Nur wenige Zeit später existiert kein einziger der genannten Betriebe mehr. Sie sind entweder aufgelöst oder privatisiert.
Vor der wiedererstandenen Kolonnade stellt man 1979 die Kopie einer Postmeilensäule auf. Deren Original war seit 1730 auf dem damaligen Dönhoffplatz aufgestellt und hatte sich etwa 30 Meter weiter westlich befunden. Vom Zeitpunkt ihrer Errichtung an diente sie als Distanzsäule vor dem Leipziger Tor und zeigte den Weg zur Residenzstadt Potsdam. Entgegen anderslautender Annahmen war sie jedoch nie der Ausgangspunkt für die Entfernungsmessung aller Straßen, die von Berlin ausgingen. Ursprünglich trug die Säule als Insignien ein Posthorn und eine Königskrone sowie den Hinweis „Nach Potsdam“. Für die Kopie verzichtet man vollständig darauf. Sie trägt lediglich die Inschrift:
Historische
Meilensäule
von 1730rekonstruiert 1979.
Mit der Wiedererrichtung der Spittelkolonnaden hat die DDR diese mitten in eine Hochhaus-Landschaft plaziert, zu der die Leipziger Straße inzwischen geworden war. Noch in den 1950er Jahren hatte man eben dies in Bezug auf die Königskolonnaden im Kleistpark angeprangert, als die Berliner Zeitung am 8. Februar 1952 in ihrer Wochenbeilage „Die Woche im Bild“ zu einem Foto jener Kolonnaden mit dem daneben aufragenden Kathreiner-Haus schrieb:
Schönheit und Hässlichkeit – dicht nebeneinander. Wie Berlin aussehen würde, wenn wir noch mehr solche formalistischen Bauten errichteten, zeigt unser Bild mit abschreckender Deutlichkeit. In der Potsdamer Straße stehen die von Gontard erbauten Kolonnaden. Der Kathreiner Konzern stellte ein kastenförmiges Hochhaus dazu.
Zum Zeitpunkt des Wiederaufbaus der Spittelkolonnaden haben sich die Ansichten dann offenbar geändert. So findet das Neue Deutschland in seiner Ausgabe vom 5. Mai 1978, bezugnehmend auf die zu dieser Zeit noch nicht fertiggestellten Spittelkolonnaden,
[daß dieses Bauwerk] in diesem Neubauviertel im Stadtzentrum Ergänzung und interessanter Gegensatz zugleich sein wird.
So ändern sich die Zeiten. Und die Sichtweisen.
Ankunft im Heute
Der Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 und die anschließende Grenzöffnung bringen nicht nur tiefgreifende Veränderungen im Leben der Einwohner Berlins und beider deutscher Staaten, sie ermöglichen auch die Ausbreitung einer „Errungenschaft“, die nun unglücklicherweise auch den Bauwerken im Osten der Stadt zuteil wird, diese verunstaltet und teils bleibende Schäden hinterläßt: Graffiti. So ist es bereits im November 1990 nötig, die Spittelkolonnaden einer chemischen Behandlung zu unterziehen, die es möglich macht, Graffiti schnell zu beseitigen.
Zwei Jahre später, im Oktober 1992 – Berlin ist nun nicht länger eine geteilte Stadt -, beschließt der Senat von Berlin, auch im Osten der Stadt 34 Bauwerke des Nachts im Lichterglanz erstrahlen zu lassen. Für diese vergleichsweise bescheidene Zahl an Gebäuden – im Westteil der Stadt werden bereits rund zweihundert Gebäude, Brunnen und Statuen in der Nacht beleuchtet – sollen insgesamt 1,4 Millionen Mark eingesetzt werden. Eines dieser Bauwerke sind die Spittelkolonnaden, die man daraufhin mit einer Deckenbeleuchtung ausstattet und durch Scheinwerfer anstrahlen läßt.
Im gleichen Jahr bringt man die verbliebenen Teile der originalen Spittelkolonnaden in ein Depot des Landesdenkmalamts in Berlin-Friedrichsfelde. Als im März 1993 die Bewag, der städtische Energieversorger, Bauarbeiten in der Leipziger Straße durchführt, werden am originalen Standort der Spittelkolonnaden Reste der alten Spittelbrücke aus rotem Sandstein gefunden.
Während der rekonstruierte Säulengang inmitten der Hochhäuser in der Leipziger Straße ganz in der Nähe des originalen Standortes die Erinnerung an die Kolonnaden des Carl von Gontard wachhält, tun dies auch die beiden Puttengruppen im Köllnischen Park als eines der letzten originalen Zeugnisse der alten Spittelkolonnaden. Doch in der Silvesternacht vom 31. Dezember 1998 zum 1. Januar 1999 kommt es für sie zur Katastrophe. Im Zuge eines geist- und sinnlosen Akts des Vandalismus wird eine der beiden originalen Puttenskulpturen in mehrere Stücke zerbrochen. Man lagert die Skulptur in diesem zerstörten Zustand ein. Weil jedoch nur fünf Teile aufgefunden werden und der Rest verschollen bleibt, ist sie seither unvollständig. Für eine Restaurierung veranschlagt man Kosten in Höhe von 75.000 Mark – Geld, das sich offenbar nicht aufbringen läßt, denn in der Folgezeit erinnert nur noch der verbliebene Sockel an die einstige Skulptur.
Im Laufe des Jahre 1999 wird publik, daß im Zuge des Planwerks Innenstadt darüber nachgedacht wird, die Kommandantenstraße, die früher bis zum Dönhoffplatz verlief und nun durch die Grünanlage, in der sich die Spittelkolonnaden befinden, verkürzt ist, wieder bis zur Leipziger Straße durchzubrechen und gegebenenfalls mit Stadtvillen zu säumen. Man spricht stolz von der Überwindung der Barriere der Leipziger Straße bei voller Erhaltung des Wohnungsbestandes. Was mit den Spittelkolonnaden, die diesen Plänen wieder einmal im Wege wären, passieren soll, ist unklar. Glücklicherweise lösen sich die Planungen am Ende in Luft auf.
Zehn Jahre später, 2009, plant man eine erneute Restaurierung der Puttengruppen im Köllnischen Park. Für die intakte Skulptur veranschlagt man Kosten in Höhe von 6.500 Euro, für die Wiederherstellung der zerstörten Gruppe als Kopie in Sandstein 28.000 Euro. Offenbar ist auch dies nach wie vor zuviel, denn es geschieht weiterhin nichts.
Am 25. März 2011 wird der bis dahin namenlose Platz um die Spittelkolonnade und die Postmeilensäule als Marion-Gräfin-Dönhoff-Platz benannt. Die Bezirksverordnetenversammlung Mitte von Berlin will damit die Journalistin, Chefredakteurin und Mitherausgeberin der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“ für ihren Einsatz zur Versöhnung zwischen den Staaten des Ostblocks und des Westens ehren.
Knapp zwei Jahre später beginnen am 21. Januar 2013 die Arbeiten für die Neugestaltung des Parks hinter den Spittelkolonnaden. 286.000 Euro werden dafür investiert. Die Pläne dazu hatte man gemeinsam mit den Anwohnern erarbeitet. Bereits ein knappes halbes Jahr später kann am 27. Juni die neugestaltete Parkanlage eröffnet werden.
Doch schon im Jahr darauf stehen die Spittelkolonnaden erneut im Fokus. Wie so viele andere, mit glatten Steinen ausgelegte Plätze ist der Raum rund um den Säulengang bei Skatern sehr beliebt geworden, die zu jener Zeit einer Modeerscheinung folgend überall in der Stadt die Gehwege unsicher machen. Beschädigungen der Bodenplatten und der Kolonnade sind die Folge. Dies und der viele Müll, den die unverständigen Jugendlichen rund um das Bauwerk hinterlassen, sorgt für den Unmut der Anwohner, die die Skater loswerden wollen. Schließlich beschäftigt sich die Bezirksverordnetenversammlung Mitte von Berlin mit dem Sachverhalt und beschließt, das Skaten rund um die Spittelkolonnaden zu verbieten.
Doch auch sonst gibt die Kolonnade nur wenig Anlaß zur Freude. Die Beleuchtung, inzwischen etwas in die Jahre gekommen, ist mehr und mehr defekt, so daß von einem abendlichen Lichterglanz des Bauwerks nicht mehr die Rede sein kann. Es bedarf erst der Initiative der Anwohner in Form der 2007 gegründeten „Interessengemeinschaft Leipziger Straße“, die erreicht, daß die Beleuchtung der Spittelkolonnaden in die Liste der zu wartenden Anlagen der Stadt aufgenommen wird, ein Umstand, der garantieren soll, daß regelmäßige Überprüfungen stattfinden und Defekte schnell behoben werden.
Die Spittelkolonnaden des Carl von Gontard sind in der Neuzeit angekommen. Inmitten einer Versammlung gleichförmiger Hochhäuser wirken sie heute allerdings ein wenig verloren, wie Zierrat aus einer längst vergangenen Zeit. Ihren eigentlichen Sinn als brückenbegleitendes Element und Ladenpassage haben sie längst verloren. Ein Schicksal, daß sie mit ihrem Schwesterbau, den Königskolonnaden, teilen. Doch während jene wenigstens noch vollständig vorhanden sind, haben die Spittelkolonnaden durch Unverstand und mutwillige Zerstörung infolge blinden Glaubens an die Priorität des Straßenverkehrs nur noch ihre halbe Gestalt bewahren können; doch dies zumindest in der Nähe des Ortes ihrer Entstehung. Es bleibt zu hoffen, daß sich die Geschichte von Lieblosigkeit, Mißachtung und Zerstörung, die die Spittelkolonnaden im Laufe ihrer Existenz erfahren mußten, nicht weiter fortsetzt, daß die Stadt und ihre Bürger aus ihr lernen und die Kolonnaden ebenso wie die anderen vergleichsweise wenigen in Berlin verbliebenen Reste früherer Zeiten schätzen und bewahren – Reste, die an die Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner erinnern und sie erzählen können. Wir müssen nur zuhören und uns dafür interessieren.
Das Banner auf dieser Seite zeigt die abendlich illuminierte Spittelkolonnade, aufgenommen 2019.
Fotograf: Alexander Glintschert (2019),
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