Ein Großstadtplatz entsteht
Nach dem Ende des Gründerkrachs schreitet die Industrialisierung wieder ungehindert voran, in deren Folge sich Berlin dramatisch verändert. Dies ist auch und gerade in den an den Alexanderplatz angrenzenden Stadtgebieten spürbar. Verschiedene Gewerbe siedeln sich hier an: eisenverarbeitende Betriebe, Firmen der Metall- und Maschinenproduktion sowie der Baustoffproduktion, holzverarbeitende Industrie, Druckereien, Großbrauereien und vieles mehr. Begünstigt wird diese Entwicklung durch die vom Platz ausgehenden Ausfallstraßen, die beispielsweise nach Prenzlau, Schönhausen, Frankfurt und Greifswald führen. Das bleibt natürlich auch auf den Alexanderplatz nicht ohne Wirkung, und so wandelt er sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts innerhalb nur weniger Jahre zu einem bedeutenden Ort des Handels und des Verkehrs.
Bemerkbar macht sich das in erster Linie im unumgänglich gewordenen Ausbau des öffentlichen Verkehrssystems. Mitte der 1870er Jahre werden die Schienen für die Berliner Pferdebahn verlegt, deren erste am 1. Januar 1877 über den Alexanderplatz nach Weißensee rollt. 1875 wird mit dem Bau der Berliner Stadtbahn begonnen, einem verkehrstechnischen Monumentalwerk, das sich vom Schlesischen Bahnhof (dem heutigen Ostbahnhof) bis zum Bahnhof Charlottenburg erstreckt. Im Umfeld des Alexanderplatzes – zwischen den späteren Bahnhöfen Jannowitzbrücke und Börse (dem heutigen Bahnhof Hackescher Markt) wird die Strecke entlang des Königsgrabens geführt, dem letzten verbliebenen Rest der bereits im 18. Jahrhundert abgerissenen Berliner Festungsanlagen. Dafür schüttet man in den Jahren 1876 bis 1878 den Kanal mit rund 100.000 Kubikmetern Mauerwerk auf seiner gesamten Länge von rund zwei Kilometern vollkommen zu. Anschließend errichtet man das Viadukt der Stadtbahn genau über dem ehemaligen Kanal, woraus sich die geschwungene Streckenführung erklärt. Heute läßt sich daher an der Stadtbahn der historische Stadtgrundriß genau nachvollziehen. Im Zuge der Bauarbeiten reißt man auch die nicht mehr erforderliche Königsbrücke am Alexanderplatz ab – gerade einmal zehn Jahre nach dem letzten Neubau der Brücke. Die Königsstraße (heute Rathausstraße), die bis dahin über sie den Kanal überquerte, führt alsbald selbst durch ein Brücke – die Überführung der Stadtbahn.
Ein Bahnhof der Stadtbahn ist von Anfang am Alexanderplatz vorgesehen. Entworfen wird er von Johann Eduard Jacobsthal, einem Architekturprofessor an der Technischen Hochschule Charlottenburg, der auch die Entwürfe für den Bahnhof Bellevue anfertigte. Da er am Alexanderplatz der Forderung nachkommen muß, die in unmittelbarer Nähe befindlichen Königskolonnaden einzubeziehen, sieht Jacobsthal für die Gestaltung des Bahnhofs die Verarbeitung von dem Barock angeglichenen ornamentalen Stilelemente vor. Sein Bahnhofsgebäude ist nach seiner Errichtung 170 Meter lang und im Bereich des Vestibüls rund fünfzig Meter breit. Die darüber befindliche Halle bringt es auf eine Breite von dreißig Metern und eine Höhe von 19 Metern. Die Eröffnung des Bahnhofs feiert man am 6. Februar 1882, die Stadtbahn wird einen Tag später in Betrieb genommen. In der Folgezeit entstehen in den Bogenräumen des Viadukts unter den Gleisen insgesamt 477 sogenannte „Einheiten“ – vorwiegend Lagerräume, Pferdeställe, Werkstätten und Lokale.
Der Bau der Stadtbahn ist der Startschuß für eine einsetzende rege Bautätigkeit am Alexanderplatz in den folgenden Jahren, in deren Folge der Platz sein Gesicht wandelt – wieder einmal. 1882 reißt man das alte Arbeitshaus ab. Es ist längst zu klein geworden für die schnell wachsende Stadt, so daß bereits ein ungleich größeres Arbeitshaus in Rummelsburg, fernab vom Stadtkern, errichtet worden war. Der Nachfolger des innerstädtischen Arbeitshauses ist ihm jedoch in seinem Zweck in gewisser Weise ähnlich: der Bau des Polizeipräsidiums mit angeschlossenem Stadtgefängnis beginnt im selben Jahr.
Ein Jahr später, 1883, entsteht neben dem neuen Bahnhof, auf der dem Alexanderplatz abgewandten Seite, ein Gebäude, das sich in den Folgejahren zu einer großen Besucherattraktion entwickelt: Das Panorama der Schlacht von Sedan. Darin wird der Sieg über Frankreich im Krieg von 1870 in einem riesigen Panoramagemälde in prächtigen Farben dargestellt.
Es dauert nur ein weiteres Jahr, bis am Alexanderplatz ein weiterer Neubau seine Pforten öffnet. 1884 weiht man das neue Grand-Hôtel Alexanderplatz nach nur zwei Jahren Bauzeit ein, das sich an der Ecke der Alexanderstraße zur Neuen Königstraße (der heutigen Otto-Braun-Straße) befindet. Einst stand an dieser Stelle der „Stelzenkrug“. Das neue Hotel ist nach dem „Kaiserhof“ in der Wilhelmstraße und dem „Central-Hotel“ direkt am Bahnhof Friedrichstraße der dritte große Hotelbau in Berlin.
Um 1880 gibt es in Berlin um die zwanzig Märkte, die unter freiem Himmel auf Straßen und Plätzen stattfinden. Einer davon wird regelmäßig auf dem Alexanderplatz veranstaltet. Mit dem schnellen Wachstum der Stadt und damit auch der Bevölkerung werden diese Märkte zum einem mehr und mehr zu einem Verkehrshindernis, zum anderen aber auch zu einem Gesundheitsrisiko, da sie nirgendwo auch nur den mindesten hygienischen Anforderungen genügen. Zwischen den Marktständen wird Lebendvieh verkauft, oft auch gleich vor Ort geschlachtet. Um für dieses Problem Abhilfe zu schaffen, beschließt der Magistrat der Stadt ein Markthallen-Programm. Dieses sieht vor, in allen Stadtteilen kleinere Markthallen zu errichten, die die Wochenmärkte ablösen sollen. Ergänzt werden diese Stadtteilmarkthallen um eine große Zentralmarkthalle nach dem Vorbilder der Pariser „Les Halles“. Für deren Standort wird der Alexanderplatz auserkoren.
Der Auftrag für die Entwürfe geht an den Stadtbaurat Hermann Blankenstein. Zu den von ihm geleiteten Bauprojekten zählt unter anderem auch die Errichtung des zentralen Vieh- und Schlachthofs an der Landsberger Straße (heute Landsberger Allee). Nach einer Bauzeit von drei Jahren eröffnet am 3. Mai 1886 die Zentralmarkthalle I direkt am Bahnhof Alexanderplatz – die größte der Stadt. Ihr Standort ist etwa dort, wo sich einst die Bastion 10 der Berliner Festungsanlagen befand. Doch selbst diese große Markthalle reicht alsbald nicht aus, um alle Platzwünsche zu erfüllen, und so wird 1893 noch eine weitere Zentralmarkthalle Ia am Alexanderplatz eröffnet. Die beiden Markthallen stehen links und rechts der Kaiser-Wilhelm-Straße (der heutigen Karl-Liebknecht-Straße). Mit einer Gesamtgrundfläche von rund 11.000 Quadratmetern übertreffen sie sowohl die berühmten Londoner Markthallen als auch die nicht minder bekannten Pariser „Les Halles“.
Ihre direkte Nähe zum Stadtbahnviadukt machen sich die Markthallen zunutze: die Zentralmarkthalle I verfügt über einen direkten Gleisanschluß. Dies ermöglicht die Lieferung der Produkte mit der Eisenbahn direkt zum Verkaufsort, ein Vorteil sowohl für die Händler als auch die Berliner, denn auf diese Weise können in der Markthalle stets frische Lebensmittel verkauft werden. Und das Angebot ist vielfältig – außer Fisch ist hier praktisch alles zu haben, denn den Fischverkauf verlegt man aus hygienischen und logistischen Gründen in die Arkaden des Stadtbahnhofs Alexanderplatz entlang der heutigen Dircksenstraße. Dort gibt es sogar ein riesiges Meerwasserbecken mit lebenden Fischen.
Auf der anderen Seite des Platzes wandelt man zusätzlich die Reit- und Exerzierhalle an der Keibelstraße, die 1802 zwischenzeitlich vergrößert worden war, ebenfalls in eine Markthalle um, die den Namen „Kleine Alexhalle“ erhält. Auch sie entwickelt sich schnell zu einer beliebten Markthalle.
Zu diesen Entwicklungen und dem sich ändernden Bild des Platzes schreibt Julius Rodenberg zwischen 1885 und 1887 in seinen „Bildern aus dem Berliner Leben“:
„Offen und frei liegt alles, und durch die prächtig verbreiterte Neue Friedrichstraße [die heutige Littenstraße – A.G.] schweift der Blick schon ungehindert bis zum Alexanderplatz. Welcher alte Berliner würde ihn wiedererkennen? Einst die Esplanade vor dem Königstor, zu Friedrichs des Großen Zeiten ein Sand- und Exerzierplatz, kümmerlich bebaut, und das auch noch auf königliche Kosten oder mit königlicher Unterstützung, seine beiden vornehmsten Gebäude, das Arbeitshaus und der ‚Stelzenkrug‘ – so war die ‚Contrescarpe‘, seit 1805 dem Kaiser von Rußland zu Ehren Alexanderplatz genannt. […] Jetzt sind die Königskolonnaden, mit ihren Säulen und Rokokofiguren dicht anstoßend an den Stadtbahnhof Alexanderplatz, der einzige Rest jener Zeit, und der Platz selber ist das Zentrum des Ostens von Berlin geworden – ein Platz des Fremdenverkehrs mit zahllosen Läden und Magazinen, einem Theater, einer spanischen Bodega und einer bayerischen Bierhalle, im Dämmerlichte der Stadtbahnbögen und mit dem Rollen der Züge von fünf zu fünf Minuten; – ein gewaltiger Wagenpark von Omnibussen und Pferdebahnwagen, aufgefahren zu beiden Seiten und stets in Bewegung; die Hauptstraßen der Königstadt und der ehemaligen Vorstädte mit ihrem ungeheuren Menschen- und Frachtenstrom von allen Richtungen her einmündend; – das riesige ‚Grand-Hôtel Alexanderplatz‘ mit seinem weltstädtischen Restaurant und Wiener Café anstelle des alten ‚Stelzenkruges‘; – der endlose Bauzaun des Polizeipräsidiums, fast die ganze Länge der unteren Alexanderstraße flankierend – das ist der Alexanderplatz in seiner heutigen Gestalt.“
Im Jahre 1889 ist der Ziegelbau des erwähnten neuen Polizeipräsidiums schließlich fertiggestellt und wird bezogen. Ebenfalls von Hermann Blankenstein entworfen, ist es ein riesiger Bau, der eine bebaute Fläche von 10.610 Quadratmetern umfaßt. Markantes Wahrzeichen des Gebäudes ist der wuchtige Eckturm an der dem Alexanderplatz zugewandten Seite. Dieser und die hellen roten Ziegel verhelfen dem Gebäude bei den Berliner zu seinen beiden Spitznamen: „Rote Burg“ und „Zwingburg am Alex„.
Da nach der Errichtung der Markthallen kein Bedarf mehr für Wochenmärkte auf dem Platz besteht, entschließt man sich 1890 dazu, ihn umzugestalten. Die Platzfläche wird in betretbare und unbetretbare Flächen aufgeteilt, der Paradeplatz und der Vieh- und Wollmarkt werden endgültig aufgegeben und stattdessen Kioske errichtet. Nach Plänen des Stadtgarteninspektors Hermann Mächtig erhält der Platz eine erste Grünanlage vor der Eingangsfront des Polizeipräsidiums. Da auf dem Platz mittlerweile der Schienenverkehr in Gestalt der neuen Pferdebahn dominiert, ist es nicht möglich, ihn in seiner Gänze umzugestalten, so daß die Grünanlage lediglich eine Fläche einhundert mal sechzig Metern einnimmt. Dennoch gibt sie mit ihrer Fontäne in der Mitte und den Baum- und Gehölzgruppen an ihren Rändern dem Platz ein gefälliges Antlitz. Das neue Erscheinungsbild beschreibt Alfred Döblin in seiner Autobiographie „Schicksalsreise“:
„Ich kenne den Platz noch aus der Zeit, wo es hier sehr ruhig herging und sich in der Mitte ein kleiner Hügel erhob, den ein freundlicher grüner Rasen bedeckte; da gab es auch ein Gebüsch, in dem Bänke standen, auf denen man friedlich beieinandersaß, friedlich im Grünen, mitten in Berlin auf dem Alexanderplatz. Wir saßen oft hier, meine Mutter und ich, auch einer meiner Brüder, wenn wir zur großen Markthalle gingen und der Mutter die Tasche trugen. Es fuhren noch Pferdebahnen, es gab noch kein elektrisches Licht.“
Um die Jahreswende 1893/94 kommt auch das ehemalige Königstädtischen Theater wieder zu neuen Ehren: in dem Gebäude eröffnen August und Karl Aschinger eine ihrer „Bier-Quellen“. Es ist die mittlerweile vierte in der Stadt. Der Alexanderplatz wird zu einem bedeutenden Standort des Unternehmens. Gegen Ende des Jahrhunderts unterhält Aschinger in insgesamt fünf Stadtbahnbögen gegenüber dem Polizeipräsidium seinen zentralen Küchen- und Lagerbetrieb.
In den Jahren 1894 bis 1898 wird die Georgenkirche komplett neu errichtet. Die Leitung obliegt dem Baurat Johannes Otzen. Veranlaßt hat den Neubau der Evangelische Kirchenbau-Verein unter dem Protektorat der Kaiserin Auguste Viktoria, der in den Jahren zwischen 1888 und 1900 in Berlin und seiner Umgebung insgesamt neunundvierzig neue Kirchen errichten und weihen läßt, um nach eigenem Bekunden ein „Zeichen gegen die Gottlosigkeit und die ‘sozialdemokratisch infizierte’ Arbeiterschaft zu setzen“. Am 6. Januar 1898 wird die neue Kirche in Anwesenheit des Kaiserpaares eingeweiht. Zwar ist das Kirchenschiff des Neubaus wegen der umgebenden Randbebauung an den Straßen letztlich jedoch der Sichtbarkeit vom Alexanderplatz her entzogen, der 105 Meter hohe Turm jedoch, der genau in der Achse der Königstraße steht, ist sogar schon vom Schloßplatz aus zu sehen. Bis zum Bau des Berliner Doms im Jahre 1905 ist der Turm der Georgenkirche das höchste Kirchenbauwerk der Berliner Innenstadt.
1895 erfährt der Alexanderplatz einen Neuzugang, der ihn für lange Zeit maßgeblich prägen soll: die Kolossalfigur der Berolina wird auf dem Platz aufgestellt. Schnell avanciert sie zum damaligen Wahrzeichen des Platzes und der Stadt überhaupt.
Kunst, Unterhaltung und Kommerz
Um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert ist die Bautätigkeit und die Errichtung neuer Wohnquartiere soweit vorangeschritten, daß die Mietskasernen den Alexanderplatz erreichen. Dies führt unmittelbar zur Umgestaltung der den Platz querenden Alexanderstraße und der nahegelegenen Münzstraße mit ihren Seitengassen, der die bis dahin hier vorherrschenden typischen einstöckigen Häuser mit ihren Mansarden zum Opfer fallen. Sie verschwinden endgültig und vollständig aus dem Stadtbild dieser Gegend.
Das Anwachsen der Bevölkerung hat demgegenüber jedoch das Anwachsen eines anderen Bereichs des städtischen Lebens zur Folge: die Zahl der Vergnügungsorte nimmt in jenen Jahren stetig zu, auch und gerade in der Umgegend des Alexanderplatzes. Gerade in den neugestalteten Straßen Alexander- und Münzstraße etablieren sich viele kleine Zimmertheater, „Caffee“-Häuser, Buden und Bierhallen. Sogar ganz neue Formen der Unterhaltungskunst entstehen und sind hier zu finden:
Beispielsweise eröffnet im Jahre 1899 in der Münzstraße 16 das sogenannte „Berliner Abnormitäten- und Biograph-Theater“. Hinter diesem etwas sperrigen Namen verbirgt sich das erste ortsfeste Kino Berlins! Sein Inhaber ist ein gewisser Otto Pritzkow. Der erste hier gezeigte Streifen ist eine einfache Straßenszene rund um die Berolina, später werden hier vorwiegend erotische Streifen gezeigt. Vielleicht auch deshalb ist das kleine Etablissement in der Folgezeit der vitalste berlinische Kintopp und überlebt sogar bis in die DDR-Zeit hinein – dann allerdings unter dem Namen „Münz-Kino“ und mit beanstandungsfreiem Filmprogramm. Um die Jahrhundertwernde werden jedoch bald auch anderswo in Berlin derartige Handtuchkinos eröffnet, die meist mit etwa einhundert Plätzen Besucher anlocken. 1907 zählt man bereits 139 in der gesamten Stadt!
1901 wird die Palette der Unterhaltung am Alexanderplatz um eine weitere Facette bereichert. In der Alexanderstraße 40 öffnet eine neue Unterhaltungsstätte namens „Buntes Brettl“ ihre Pforten. Begründet wird sie von Ernst von Wolzogen, der sie mit den Worten anpreist:
„Geboten wird Kabarett als gehobene Unterhaltung mit Kunstanspruch.
Kaisertreu und marktorientiert steht das unkritische Amüsement im Vordergrund.“
Auch wenn es nicht danach klingt, erweist sich dieses kleine Etablissement doch gewissermaßen als die Wiege des deutschen Kabaretts, denn nach seiner Eröffnung setzt ein regelrechter Kabarett-Boom ein. Allein von Wolzogens Unternehmen stellt noch im selben Jahr zweiundvierzig(!) neue Anträge auf Erteilung einer Konzession für weitere Spielstätten.
Im Gegensatz dazu nimmt die Bildende Kunst jener Zeit praktisch keine Notiz vom Alexanderplatz – mit einer Ausnahme: der Berliner Zeichner Heinrich Zille (1858-1929) macht keine andere Stelle der Stadt so häufig zum bildnerischen Thema seiner Arbeiten wie den Alexanderplatz, der für ihn ein Ort von Not und Leid ist. Hier entstehen viele seiner bekannten „Milljöh“-Zeichnungen.
Um die Jahrhundertwende entwickelt sich der Alexanderplatz mehr und mehr zum Verkehrsknotenpunkt, was auch den Ausbau des Verkehrssystems voranschreiten läßt. Die Pferdebahn wird schnell unzureichend und folgerichtig durch die elektrische Straßenbahn ersetzt. Die erste fährt am 1. März 1898 über den Platz. 1904 zählt man pro Tag 13.400 Wagen und 139.000 Fußgänger auf dem Platz. Dies steigert natürlich auch seine Attraktivität für die Inhaber von Handelshäusern und Geschäften, die es nun auch zum Alexanderplatz zieht. Bald schon säumen große Handels-, Waren- und Kaufhäuser den Rand des Platzes.
Im Jahre 1904 errichtet Oskar Tietz hier ein Warenhaus anstelle der großen Berliner Zuschneide-Akademie, der einstigen Seidenmanufaktur des Fabrikanten Treitschke, zwischen der Straße am Königsgraben (heutige Dircksenstraße) und der Alexanderstraße. Auf diesem Areal fallen dem Neubau alle bestehenden Gebäude zum Opfer. Neben dem ehemaligen Manufakturhaus wird so auch das Gebäude „Am Königsgraben Nr. 10“, das sogenannte Lessing-Haus, abgerissen. Die daran angebrachte Büste und die Erinnerungstafel verschwinden aus dem Stadtbild. Heute erinnert noch eine Tafel an einem Haus im Nikolai-Viertel an den Dichter. Hier, am Nikolaikirchhof Nr. 10, hat Lessing einst tatsächlich einige Zeit gewohnt. Der Hinweis auf der heutigen Tafel, er habe hier auch die „Minna von Barnhelm“ verfaßt, ist allerdings nicht richtig. Diese Ehre bleibt dem Haus am Königsgraben vorbehalten.
Das neue Kaufhaus ist das zweite des Oskar Tietz in Berlin, der es nach seinem Stiefonkel und Förderer Hermann Tietz benennt. Entworfen wird der Bau, der direkt hinter der Berolina in die Höhe wächst, von den Architekten Wilhelm Albert Cremer und Richard Wolffenstein. Im Oktober 1905 feiert man Eröffnung. Nach zwei Erweiterungen in den Jahren 1907/08 und 1910/11 steht hier am Alexanderplatz schließlich das größte Warenhaus der Welt!
Auf der anderen Seite des Bahnhofs muß im Jahre 1908 das Sedan-Panorama einem weiteren Kaufhaus-Bau weichen und wird abgerissen. Obwohl damit die Entstehung von Kauftempeln am Alexanderplatz noch lange nicht abgeschlossen ist, wird im Jahre 1908 zunächst ein anderes Gebäude errichtet, mit dem nicht in erster Linie kommerzielle Interessen verfolgt werden. Auf dem Grundstück in der Alexanderstraße 41, etwa an der Stelle, an der sich heute das Haus des Lehrers befindet, läßt der Lehrerverein nach Entwürfen von Hans Toebelmann und Henry Groß ein modernes Geschäftshaus bauen – das sogenannte Lehrervereinshaus.
Doch bereits in den Jahren 1909/10 entsteht dort, wo sich heute das Kino Cubix und das Wohnhaus in der Rathaussstraße befinden, ein weiteres großes Kaufhaus, direkt an der damaligen Königstraße: das Kaufhaus Wertheim. Seine Errichtung wird als nicht ganz unwillkommener Anlaß genommen, die Königskolonnaden von ihrem angestammten Standort zu entfernen. Zum einen sind sie der geplanten Kaufhausfront zur Königstraße im Weg, zum anderen hatten sie sich durch die Tatsache, daß sie die mittlerweile viel befahrene Königstraße sehr stark einengten, zu einem großen Verkehrshindernis entwickelt. Glücklicherweise entscheidet man sich jedoch nicht für einen einfachen Abriß, sondern versetzt die von Carl Philipp von Gontard geschaffenen Kolonnaden in den vormaligen Botanischen Garten, den heutigen Schöneberger Kleistpark. Dort stehen sie bis zum heutigen Tage.
Das Jahr 1911 bringt die Eröffnung eines weiteren Kaufhauses mit sich. Etwa dort, wo sich heute zwischen dem Bahnhof und dem Fernsehturm eine Grünfläche befindet, begründet das Unternehmen C & A sein erstes Geschäftshaus. Kurz darauf wechselt das alte Berliner Konfektionshaus Hahn an den Alexanderplatz und bezieht am Eingang zur Landsberger Allee, direkt im Anschluß an das Haus „Zum Hirschen“, neue Räume.
1913 schließlich verliert der Platz seine vor nicht allzu langer Zeit geschaffene Grünanlage, die ihm ein beinahe idyllisches Aussehen verliehen hatte, wieder. Die vom Potsdamer Platz nach Pankow verlängerte U-Bahn-Linie erreicht den Alexanderplatz, und die Grünanlage mit ihrer Fontäne ist dem Bau des Untergrundbahnhofs im Weg. Nach seiner Fertigstellung wird sie durch eine einfache kreisförmige Rasenfläche ersetzt, in der sich der südliche Eingang des U-Bahnhofs befindet, der als Schmuck einen gemauerten Torbogen mit schlichten Jugendstil-Ornamenten erhält.